Filmrezension „Kokon“: Erfrischend bodenständige Coming-Out-Story

Filmrezension „Kokon“: Erfrischend bodenständige Coming-Out-Story

„Kokon“ läuft seit 13. August in den deutschen Kinos.

Für die 14-jährige Nora (Lena Urzendowsky) und ihre ältere Schwester Jule (Lena Klenke) könnte es ein ganz normaler Sommer werden – so normal wie das Leben als Teenager in Berlin-Kreuzberg eben ist. Flirten im Freibad, kotzen auf Partys, nach einem missglückten Trinkspiel im Krankenhaus landen, während die alleinerziehende Mutter in der Kneipe sitzt. Während Lena und ihre Freund*innen sich gegenseitig in pubertärer Selbstinszenierung überbieten – von lässigen Insta-Storys bis zum selbstverfassten Gangsta-Rap – ist Nora ein Ruhepol, der sich bis auf den gelegentlichen Joint nicht so richtig mitreißen lässt von all der jugendlichen Rebellion um sich herum. Als sie die neue Mitschülerin Romy (Jella Haase) trifft, bestätigt sich, was Nora schon längst ahnt: Sie fühlt sich zu Mädchen hingezogen. Mit Romy erlebt sie die erste Liebe mit ihren schönen und schmerzhaften Facetten – und findet auf ihre ganz eigene, stille Art ihren Weg zu sich selbst.

„Kokon“ ist ein fast schon überrraschend gelungener Film, wenn man sich das Genre der Coming-Out-Story mit all seinen Klischees und Fallstricken anschaut. Denn diese weiß der Film größtenteils elegant zu umschiffen.

Im Film "Kokon" lungern die Jugendlichen Nora, Jule und Aylin auf einem Hausdach in Kreuzberg herum
Nora (links) mit Schwester Jule und Freundin Aylin (Bilder: Edition Salzgeber)

Seine Stärke ist ohne Zweifel die Hauptfigur, gespielt von Lena Urzendowsky (geboren 2000), der man die introvertierte 14-Jährige erstaunlich gut abkauft – was Beweis für ihr großes Talent ist. Aber auch die restlichen Figuren sind durch die Bank glaubwürdig – manchmal so glaubwürdig, dass man zwischen all dem pubertären Gehabe einfach nur denkt: „Gottseidank bin ich nicht mehr vierzehn.“ Vor allem Romy ist ein gelungenes „Love Interest“, das begehrenswert, aber nicht allzu überhöht und unerreichbar erscheint – sondern durchaus wie jemand, dem man auch im echten Leben begegnen könnte (und sich als queeres Teeniemädchen sogleich verknallen würde).

Auch erzählt Regisseurin Leonie Krippendorff die Liebesgeschichte zwischen Nora und Romy ohne jeglichen Voyeurismus. Die Szenen, die Intimität oder Nacktheit zeigen, fühlen sich natürlich und nie deplatziert oder überflüssig an.

Vor allem verzichtet der Film auf unnötige Schockeffekte wie die im Genre leider nahezu obligatorischen homofeindlichen Attacken auf die Hauptfigur(en). Zwar wird auch Nora mitgeteilt, ihre sexuelle Orientierung sei sicherlich „nur eine Phase“, und ein Mitschüler findet, eine sportliche Übung sehe „schwul“ aus, doch körperliche Gewalt bleibt zum Glück aus.

Einige Triggerwarnungen sind dennoch nötig: Der Film enthält eine Szene, in der einige Jugendliche über den Körper einer übergewichtigen Mitschülerin herziehen. Außerdem gibt es zwei Szenen, in denen Gangsta-Rap-Songs mit sehr sexistischem Inhalt performt werden, und eine Szene, in der über eine Essstörung gesprochen wird.

Insgesamt bleiben die jugendlichen Grenzüberschreitungsversuche relativ zahm dafür, dass „Kokon“ in einem sogenannten „sozialen Brennpunkt“ angesiedelt ist, wenn man ihn mit ähnlich situierten Filmen wie „Tigermilch“ vergleicht. Der Film will uns nicht überzeugen, dass die Jugend von heute total verdorben ist, sondern er nimmt seine Subjekte jederzeit vollkommen ernst – und unterwandert dabei die Erwartungen des Publikums. Wenn Nora bei einer Party (ungefragt) von einem Jungen geküsst wird, schrillen als Zuschauerin alle Alarmglocken. Doch als sie ihm gesteht, dass sie in ein Mädchen verliebt ist, ist seine Antwort: „Das finde ich irgendwie cool.“ Diese Ernsthaftigkeit und die Ruhe der Inszenierung machen „Kokon“ so erfrischend. Es gibt haufenweise Berlin-Filme, die laut und bunt und irgendwie krass sind. „Kokon“ hingegen nimmt sich Zeit, den Werdegang seiner Hauptfigur zu erzählen und lässt immer wieder Momente voller Poesie entstehen. Auch wenn die titelgebende Raupe-und-Schmetterling-Metapher ein bisschen vorschlaghammermäßig ist – das eine oder andere Klischee darf der Film sich auch gönnen (Poolszene anyone?).

Fazit: Ein gelungener queerer Indie-Film, der eine im Grunde zeitlose Geschichte auf eine erfrischende und aktuelle Weise erzählt.

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