Ehret die Eichel – über geschlechterspezifische Tabus in Tunesien

Ehret die Eichel – über geschlechterspezifische Tabus in Tunesien

Unsere Gastautorin Halima Azour ärgert sich über die Heroisierung der Eichel und die Tabuisierung der Vulva in Tunesien. Besonders stört sie, dass dadurch auch heftige Menstruationsbeschwerden ignoriert und weiblich codierte Belange wieder einmal unsichtbar werden.

Ich bin Deutsche mit tunesischem Migrationshintergrund und wuchs sehr behütet in einer säkularen Familie in Norddeutschland auf. Meine Familie stammt aus Sousse, einer für ihre Liberalität bekannte Stadt. In meiner Familie in Sousse trägt keine der Frauen ein Kopftuch und am Wochenende ziehen die jungen Menschen gemeinsam um die Häuser.

Um den urbanen Mittelschichtssexismus in Tunesien zu verstehen, muss man sich von Religion als alleinige Ursache lösen und die traditionelle Prüderie beleuchten. Diese, kombiniert mit dem Hang zu Dekadenz und Protz, führt zu absurden Gesamtkonstellationen. Diese dekadente Mittelschicht, deren Hauptaugenmerk immer auf der Außenwirkung liegt, praktiziert mittlerweile einen Umgang mit den Geschlechtern, der objektive Betrachter*innen nur den Kopf schütteln lässt.

Menstruierende Frauen gelten als zu „schmutzig“ für religiöse Rituale

Ich bin in Tunesien und für das muslimische Opferfest in einem Gebetsraum mit acht weiteren Frauen. Geplant ist, dass gemeinsam gebetet und gefeiert wird. In der Regel wird der Koran herumgegeben, sodass abwechselnd Suren vorgetragen werden können. Nozra, eine große stämmige Frau aus der Nähe von Sousse, flüstert etwas in die rein weibliche Runde. Mit gedämpfter Stimme und heiter beschämt erklärt sie, dass sie menstruiere. Welche religiösen Folgen die Regelblutung für Frauen hat, ist hochumstritten. Eine Google-Recherche hierzu führt zu unzähligen widersprüchlichen Ergebnissen. Ein reinster Meinungsstreit.

Interessant ist hier aber wieder ein Muster, das sich durch die gesamte Gesellschaft zieht: Im Zweifel entscheidet man sich für die strengste Auslegung, also diejenige, die Frauen am meisten in ihrem Leben geißelt. Für alle Frauen war deshalb selbstverständlich, dass Nozra den Koran nicht berühren durfte und auch nicht aus dem Koran zitieren durfte. Hinzu kommt wieder die erwähnte kulturelle Komponente: Menstruierende Frauen werden nicht nur vermeintlich religiös motiviert ausgegrenzt, sondern auch sprachlich herabgewürdigt und im tunesischen Dialekt umgangssprachlich als „schmutzig“ oder „dreckig“ bezeichnet. Das so entstehende Gesamtbild ist also, dass menstruierende Frauen zu schmutzig sind, um religiöse Rituale vollziehen zu dürfen. Die Kultur offenbart mir erneut ihren fehlenden Respekt.

Wenn ich meine Cousinen bei einem ehrlichen Gespräch darum bitte, mich während meiner Regelblutung nicht als „schmutzig“ zu bezeichnen, sondern den französischen Begriff „Regles“ zu verwenden, entgegnen sie mir, dass das ja nur der Begriff sei, den man eben verwende und dieser keine weitere Bedeutung hätte.

Man schweigt über die Menstruation, als würde sie schlicht nicht existieren

Die sprachliche Abwertung hat aber reale Folgen. Die dreckige Komponente, das stille Leiden junger Menstruierender wiederholt sich jeden Monat. Es ist ein warmer Augusttag und ich bin wieder auf Familienbesuch in Tunesien. Wir sitzen im schönen Innenhof des traditionell tunesischen Hauses meiner Tante. Meine Cousine Imen ist nicht anwesend. Ihr ginge es nicht gut, sodass sie sich mal wieder im Zimmer eingeschlossen habe. So wie jeden Monat für vier Tage. Von uns Frauen wird erwartet, dass wir den Code verstehen. Eine junge Frau, der es nicht gut geht und ein Leiden, das nicht näher spezifiziert wird, ist der sichere Code für Menstruationsbeschwerden.

In Anwesenheit von Männern wird darüber nicht gesprochen – ob die Tochter sich nun gerade übergibt oder wegen Unterleibskrämpfen verzweifelt weint. Man schweigt über ihr Leiden, als würde es schlicht nicht existieren. Man spricht nicht über „schmutzige Frauen“. Man spricht nicht über Dreck. Vor allem nicht kurz vorm Abendessen. Sollte eine Frau sich jemals trauen, offen über ihre Menstruation zu sprechen, würde sie sich mit Beleidigungen konfrontiert sehen. Ihr Vater würde höchstwahrscheinlich der Mutter vorwerfen, ihre Tochter nicht richtig erzogen zu haben. Wie sollte sie sonst auf die absurde Idee kommen, ihre Menstruationsbeschwerden anzusprechen?

Die „Vorhautgesellschaft“ singt und tanzt auf den Straßen

Bei Tisch wird aber sehr wohl über andere Genitalien geredet. Wir feiern gemeinsam, dass meinem Cousin die Vorhaut entfernt wird. Das ganze soziale Umfeld der Familie wird eingeladen, damit mit einer traditionellen Folkloreband durch die Stadt gezogen werden kann. Die Vorhautgesellschaft, die aus Familie, Freund*innen, Nachbar*innen, Nachbar*innen von Freund*innen und Familie besteht, wandert singend und tanzend durch die Stadt. Der Sohn wird, als Sultan verkleidet, samt Plastikzepter auf ein opulent geschmücktes Pferd gesetzt. Wir zelebrieren seine befreite Eichel. Die Zeremonie als Statussymbol. Die Kultur zeigt ihr dekadentes Gesicht.

Die eigentliche Beschneidung wird mit Fotos und Videomaterial dokumentiert, damit diese später herumgereicht werden können. Man ist stolz auf den frisch frisierten Penis. Wenn Nachbar*innen nach der Eichel fragen, prahlt man davon, wie schnell die Wunde doch beim eigenen Sohn verheilt – ob im Bus, beim Frühstück, Mittagessen oder beim Smalltalk mit Arbeitskolleg*innen. Man spricht über Nähte, Narben und natürlich die Penisvorhaut.

Über Vulven und Vaginen wird geschwiegen, als handelte es sich dabei um Staatsgeheimnisse. Die Belange der Menschen, die aufgrund ihrer Genitalien als Frauen kategorisiert werden, werden tabuisiert und sind zur Unsichtbarkeit verdammt. Die „richtigen“ Genitalien hingegen sind eine Freikarte für einen Ausritt durch die Nachbarschaft samt Plastikzepter.

Bild: „Circumcision party 6, Fès“ von Annette Dubois, lizensiert unter CC BY-NC 2.0

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