Unterdrückung durch Medizin: Zwangseinweisung von Frauen in der DDR

Unterdrückung durch Medizin: Zwangseinweisung von Frauen in der DDR

Trigger-Warnung: Sexualisierte Gewalt und Gewalt in gynäkologischen Kontexten.

Anmerkung der Redaktion: In dem Interview geht es vor allem bis ausschließlich um die Unterdrückung von cis-Frauen. Wir möchten darauf hinweisen, dass Frau-Sein und Weiblichkeit nicht bedeuten muss, eine Vulva und/oder Vagina zu haben.

In der DDR konnten Mädchen und Frauen bei Verdacht auf Geschlechtskrankheiten in sogenannte venerologische Stationen zwangseingewiesen werden. Eine studentische Initiative aus Dresden organisiert derzeit Vorträge zu diesen Stationen – und erfährt Gegenwind von ihrer Uni. Wir haben uns mit Maximilian aus dem Orga-Team getroffen und darüber gesprochen, worum es überhaupt geht.

 

Alica: Was hat es mit venerologischen Stationen auf sich? Und worum geht es in euren Vorträgen?

Maximilian: Venerologische Stationen sind erstmal sexualheilkundliche Stationen. Da werden Krankheiten wie Syphilis oder Gonorrhö, also im Volksmund Tripper, behandelt. Die gibt es heute, die gab es aber vor allem auch nach dem zweiten Weltkrieg, weil es damals ein großes Problem mit sexuell übertragbaren Krankheiten gab. In diese Stationen wurden Leute zwangseingewiesen und zwangsbehandelt. Diese Praxis wurde dann im Westen relativ schnell wieder beendet, aber in der DDR während der gesamten Zeit aufrechterhalten.

In diesen Stationen wurden in der DDR mehrere zehntausend Frauen auf schreckliche Weise psychisch und physisch (geistig und körperlich, Anmerkung der Redaktion) misshandelt. Das geschah mit klarer politischer Motivation. Die Publikationen von Ärzt*innen aus der Zeit selbst, aus diesen Stationen, belegen, dass siebzig Prozent der Patientinnen nicht krank waren. Das ist wichtig zu betonen. Siebzig Prozent dieser Patientinnen hatten keinerlei sexuell übertragbare Erkrankungen. Trotzdem mussten sie dort ihre Zeit verbringen, mit täglichen gynäkologischen Untersuchungen, die mit größter Brutalität durchgeführt wurden. Es kam in diesen Stationen zu Fehlgeburten und zur Beschädigung vom Hymen, besser bekannt als Jungfernhäutchen.

(Anmerkung der Redaktion: Eine Broschüre zum Thema Hymen und den Mythen darum findet ihr hier [klick!] und eine Zusammenfassung dieser hier [klick!].)

Über diese ganze Thematik ist super wenig bekannt. Genau deswegen wollen wir diese Vorträge ausrichten. Und dort wird Professor Steger, einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet, das nochmal in größerer Form, also in neunzig Minuten, darstellen.

Alica: Mit welcher politischen Motivation ist das passiert? Was war das Ziel dieser Stationen?

Maximilian: Das ist tatsächlich sehr schwer zu beantworten. Was ich sagen kann, ist, dass zwei Drittel aller Einweisungen begründet waren mit Arbeitsbummlerei und Herumtreiberei. Mit der Koordinierung durch das Ministerium durch Gesundheitswesen und Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit wird deutlich erkennbar, dass Gesundheitsversorgung nicht das Ziel dieser Stationen war. Frauen, die in den Augen der sozialistischen Gesellschaft oder aus der Perspektive des Staates „nicht funktioniert“ haben, kamen in diese Stationen. Und „nicht funktioniert“ heißt eben: Nicht dem Idealbild der sozialistischen Bürgerin entsprochen.

Alica: Ist das nur für Mediziner*innen wichtig und interessant? Kannst du einen Bezug zu tagesaktuellem Geschehen herstellen – oder vielleicht, warum das mich, als Person, die keine Familiengeschichte in der DDR und nichts mit Medizin am Hut hat, interessieren sollte?

Maximilian: In diesen Stationen wurden mehrere zehntausend Frauen gegen ihren Willen festgehalten. Und diese Frauen sind ja nicht einfach verschwunden, sie leben heute noch und sind in den meisten Fällen zwischen 50 und 80 Jahre alt. Damit kommen sie in ein Alter, in dem sie öfter mal zum Arzt*zur Ärztin gehen müssen. Diese Frauen sind aber gerade im Bezug auf Ärzt*innen oft schwer traumatisiert.

Über diese Stationen ist aber extrem wenig bekannt in unserer Gesellschaft, auch innerhalb der Ärzt*innenschaft. Das ist insofern problematisch, dass es Fälle gibt, in denen diese Frauen zu ihrem Arzt*ihrer Ärztin gehen, sich auf diesen gynäkologischen Stuhl setzen – auf dem sie vor Jahrzehnten, als sie das letzte Mal darauf saßen, Opfer dieser Gewaltverbrechen wurden – ihrem Arzt*ihrer Ärztin von dem berichten, was ihnen widerfahren ist, was natürlich auch eine enorme Kraftanstrengung und gewisse Leistung ist, und dann wird ihnen nicht geglaubt. Weil das hätte man ja gehört. Die DDR sei ja aufgearbeitet. So ein schweres Verbrechen, das so viele Frauen betroffen hat, das kann ja gar nicht stimmen.

Diesen Frauen wurde bis vor fünf Jahren in sehr vielen Fällen schlicht nicht geglaubt. Es gab einige wenige Selbsthilfevereine. Aber in der Wissenschaft war dieses Thema nie angekommen. Bis es dann eben vor fünf Jahren durch Frau Neumann-Becker, die Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt, und von unserem Vortragenden Professor Steger aufgegriffen wurde.

Ich denke schon, dass wir als Gesellschaft dieses Verbrechen anerkennen müssen. Wir sollten darüber sprechen können und das setzt eben voraus, dass wir darüber Bescheid wissen. Auch um das Leid dieser Frauen zu sehen und ihnen eine adäquate Betreuung zu ermöglichen. Sei es jetzt auf medizinischer Ebene oder durch ihnen zustehende Entschädigungen, die sie im Moment leider nicht erhalten.

Alica: Wie geht es den betroffenen Personen heute, weiß man etwas darüber? Auch: Wie geht es den Kindern betroffener Personen, oft wirken sich traumatische Erfahrungen ja auf ganze Familiengeschichten aus?

Maximilian: Es gibt keine strukturierte Nachbetreuung. Das liegt unter anderem daran, dass dieses Thema so unbekannt ist und nie wirklich aufgearbeitet wurde. Außer in den letzten Jahren aus wissenschaftlicher Perspektive. Ich würde schon sagen, dass diese Frauen allein gelassen werden. Und dass Traumata transgenerational weitergegeben werden, das ist ein bekanntes Phänomen. Trans-generational bedeutet, dass beispielsweise eine Mutter das Trauma an ihre Kinder weitergeben kann, wie es auch hier passiert.

Zu psychlogisch-medizinischen Konsequenzen kann ich nicht viel sagen, ich bin kein Experte. Aber dass die Situation so wie sie jetzt ist, nicht tragbar ist, ist denke ich auch aus einer Laien-Perspektive recht offensichtlich.

Alica: Habt ihr Forderungen an Politik und Medizin? Wenn ja: Wie sehen diese aus?

Maximilian: Wir haben eine klare Forderung und die richtet sich an die Universität, genauer an das Institut für Geschichte in der Medizin der TU Dresden. Und diese Forderung lautet, dass das Wissen um diese Stationen auch im Rahmen des Medizinstudiums weitergegeben werden soll.

Es kann aus unserer Perspektive nicht sein, dass wir mit keinem Wort von dieser Thematik erfahren. Während eines sechsjährigen Studiums. Das ist auf ganz vielen Ebenen nicht tragbar.

Alica: Aktuell erfahrt ihr ja eher Gegenwind von der Uni. Was heißt das konkret, kannst du was darüber erzählen? Und kann man euch unterstützen?

Maximilian: Das ist eine etwas schwierige Sache. Unsere Kritik bezieht sich auf zwei Punkte. Einmal, dass diese Thematik nicht unterrichtet wird im Medizinstudium. Wir haben das Institut für Geschichte in der Medizin und die Uniklinik angefragt – und das Institut für Geschichte sieht nicht wirklich die Relevanz des Themas und verfolgt auch nicht mit großem Interesse die Einbringung in die Lehre. Auch, wenn sie Gespräche angeboten haben, bezog sich das eher darauf, die Sache klein zu reden – aber das ist natürlich meine subjektive Perspektive. Zum anderen hat die Geschäftsführung der Uniklinik zu uns gesagt, dass es ja nicht um eine direkte Vorgänger-Institution der Uniklinik gehen würde, und sie deswegen damit nichts zu tun hätten. Und ich glaube, damit wird man der Verantwortung einer Uniklinik schlicht nicht gerecht.

Unterstützen kann man uns damit, zu den Veranstaltungen zu kommen, wenn man selbst in Dresden sein sollte. Wir haben zu diesen Veranstaltungen auch Presse eingeladen und würden uns natürlich freuen, wenn diese danach das Bild transportieren kann, dass sich Leute auch dafür interessieren.

Man kann aber auch gerne dem Institut für Geschichte in der Medizin der TU Dresden oder der Uniklinik selbst eine Mail schreiben und mal fragen, warum sie ihrer Verantwortung da nicht gerecht werden wollen. Das muss nichts Langes oder Kompliziertes sein. Und uns gerne in die Empfänger bei solchen Mails setzen, damit wir das sammeln können. (Kontaktstellen und Mail-Adressen findet ihr am Ende dieses Interviews, Anmerkung der Redaktion.)

Alica: Es gibt bestimmt ganz viel Wichtiges zu dem Thema, was ich gerade nicht erfragen kann, weil ich nicht genug Vorwissen mitbringe. Wenn du oder ihr als Orga-Team euch für drei Dinge entscheiden müsstet, die Leser*innen jetzt mitnehmen können: Welche wären das?

Maximilian: Ich würde mich gerne für zwei Dinge entschieden, die mir beide sehr wichtig sind.

Der erste Punkt ist das Frauenbild hinter diesen Stationen. Ich hatte ja schon kurz angerissen, dass hinter diesen Stationen ein extrem patriarchales Frauenbild steht, in dem Frauen abgesprochen wird, überhaupt die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung zu besitzen. Dieses Bild ist nicht einfach aus den Köpfen der Menschen verschwunden, sondern existiert noch in ganz vielen Bereichen und es ist wichtig, dem aktiv zu widersprechen. Und eben auch zu sehen, was passiert, wenn ein solches Menschen- und Frauenbild den Weg in die Gestaltung von Machtstrukturen findet.

Zum anderen wird an diesem Thema nochmal ganz klar deutlich, dass wir nicht fertig sind, mit der Aufarbeitung der DDR. Ich glaube nicht, dass wir jemals einen Punkt erreichen werden, an dem wir fertig sind mit der Aufarbeitung unserer Geschichte. Ich glaube, es geht darum, darüber zu sprechen, was dort passiert ist und was dort nicht passiert ist – und diesen Dialog auch aufrecht zu erhalten, solange das gesellschaftlich erwünscht oder notwendig ist. Momentan ist dieser Dialog gewünscht. Aber der Dialog muss auch geführt werden, weil er einfach notwendig ist. Das schuldet man den Menschen, die zu Opfern dieses Systems geworden sind.

Alica: Danke für deine Zeit und das Gespräch. Aber vor allem Danke für deine und eure Aufklärungsarbeit!

 

Hier geht es zur facebook-Veranstaltung des Vortrags in Dresden: klick!

Mail-Adresse des Orga-Teams hinter dem Vortrag: kritmed_dd[at]riseup.de

Anlaufstelle für Betroffene: Der*Die jeweilige*r Landesbeauftragte*r zur Aufarbeitung der SED Diktatur. In Sachsen beispielsweise hier [klick!] erreichbar.

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