Wir muessten mal reden: Das sind Julia und Esin. Mit den beiden spreche ich darüber, welche Rolle Selbstbezeichnungen spielen, wenn man sich mit Diskriminierungserfahrungen auseinandersetzt. Es geht um Intersektionalität, Netzaktivismus und Body Positivity – ein heikles Thema, denn auch diese Bewegung sollte ursprünglich einen Schutzraum für marginalisierte Gruppen bieten. Aber dieser Schutzraum wird inzwischen immer mehr von weißen[1] Menschen vereinnahmt, die zudem oft dem konventionellen Schönheitsideal entsprechen.
Inhaltswarnung: Rassismus, Feindlichkeit gegen hochgewichtige Menschen, Essstörungen
Marginalisierten Gruppen eine intersektionale Plattform bieten
Julia und Esin bezeichnen sich selbst als „fette Women of Color“. Seit September 2018 betreiben sie einen Blog mit dem Titel „Wir muessten mal reden“.
Ich treffe mich mit Julia bei mir, wir rufen Esin an und unterhalten uns. Ich habe mir ein paar Fragen notiert, merke aber schnell, dass das kein Interview im klassischen Sinne wird: Die beiden haben enorm viel zu sagen und trotz des Ernstes der besprochenen Themen bringen sie eine bewundernswerte Leichtigkeit ins Gespräch.
Ein Ziel des Blogs ist es laut Julia, eine Bildungsplattform zu schaffen: „Ich war es leid, immer wieder das Gleiche zu erklären. Ich wollte eine Plattform schaffen, damit Menschen dort nachlesen können, ohne dass wir immer wieder alles erklären müssen. Gleichzeitig wollen wir aber auch einen safe space (dt. „Schutzraum“) mit einem Schwerpunkt auf BIWoC für mehrfach marginalisierte Gruppen schaffen, beispielsweise für fette, Schwarze [2], queere Frauen. Denn auch in der BIWoC/BIPoC[3]-Szene werden vornehmlich dünne, konventionell schöne PoC gesehen.“
Esin sieht das ähnlich: „Es geht gar nicht primär um uns auf dem Blog, sondern vor allem um Repräsentation. Was man auf Social Media sieht, ist so weiß.“
Intersektionalität ist das Stichwort. Die beiden haben selbst mehrere Diskriminierungsoberflächen und kritisieren weißen Feminismus. „Wir wissen, dass fette, dunkelhäutige und/oder Schwarze Körper (nicht alle Menschen mit dunkler Haut sind Schwarz, nicht alle Schwarzen Menschen haben dunkle Haut) – alle Körper die nicht dünn, weiß, cis und hetero sind – immer einen politischen Aspekt haben werden“, sagt Julia zu mir. Dabei geht es vor allem um Menschen, die Opfer verschiedener Diskriminierungen und-ismen werden, wie beispielsweise Women of Color: Als Frauen sind sie von Sexismus, als PoC gleichzeitig von Rassismus betroffen.
Julia und Esin leisten auf „Wir muessten mal reden“ nicht nur Bildungsarbeit, indem sie unermüdlich aufklären, Begriffe erklären oder auf Fragen antworten. Sie schreiben auch über sehr persönliche Themen – beispielsweise darüber, als fette Frau Sex zu haben. Klar habe sie Angst, vor fast 2.000 Follower*innen so viel von sich preiszugeben, sagt Esin: „Aber genau darum geht es uns ja auch: Diese Stigmata anzusprechen. Und das ist wichtiger als meine persönliche Angst.“
Esin (recht im Bild) ist 24 Jahre alt, lebt in Heidelberg und arbeitet in der Verwaltung eines Pflegeheims. Sie ist türkischer Herkunft und „mit Leib und Seele Aktivistin“. Aktuell beschäftigt sie sich hauptsächlich mit den Themen Rassismus und Islamophobie, weil sie selbst davon betroffen ist.
Julia (links im Bild) ist 18 Jahre alt und als junges Mädchen an Vitiligo[4] erkrankt. Durch diese Erkrankung ist ihre Haut sehr hell geworden. Sie ist quadro-racial, hat also vier Ethnien, und auch sie ist von Rassismus betroffen.
Wir muessten mal reden: Netzaktivismus und Bildung via Instagram
Ich frage mich, wo wir in der heutigen Zeit stehen würden, gäbe es keine Sozialen Netzwerke. Also spreche ich mit den beiden über Netzaktivismus und warum er ihrer Meinung nach so wichtig ist.
Julia: „Manchmal bekommen wir Nachrichten wie ‚Wenn ihr wirklich etwas verändern wollt, dann geht doch auf die Straße‘. Aber viele weiße Menschen mit „Make Love, Not War“ oder „Rassismus sucks“-Schildern machen eigentlich gar nichts außer das Schild hochzuhalten. Auf Social Media passiert dagegen so viel. Ich bin nicht aus mir raus gegangen und habe mehr Selbstliebe, weil ich mit 20 dünnen weißen Mädels auf die Straße gegangen bin, sondern weil ich auf Social Media Menschen wie Winnie Harlow oder Lizzo gesehen habe. ‚Geht auf die Straße‘ ist auch nicht wirklich intersektional, wenn man nicht an die Menschen denkt, die es nicht schaffen, auf die Straße zu gehen.“
Esin findet: „Genauso wichtig wie auf die Straße zu gehen ist es, Menschen in Kommentarspalten anzusprechen, zu sagen ‚Ey, was du laberst ist komplette Scheiße‘. Man darf Aktivismus auf Social Media nicht mehr von Aktivismus auf der Straße trennen. Das gehört mittlerweile zusammen. Was bringt es mir, wenn ich samstags auf die Straße gehe, Rassismus sonst aber komplett ignoriere oder reproduziere?“
Warum Selbstbezeichnungen so wichtig sind
Julia und Esin bezeichnen sich selbst explizit als „fette Women of Color“. Ich frage die beiden, wieso es so wichtig ist, diese explizite Selbstbezeichnung zu wählen.
Julia erzählt mir in diesem Kontext mehr über ihre Erfahrungen mit Rassismus: „In erster Linie geht es darum, zu zeigen, dass wir da sind und aufgrund des Daseins als BIWoC anders wahrgenommen werden als weiße Menschen. Es soll dem ‚Ich sehe keine Farbe, für mich sind alle Menschen gleich‘ etwas entgegensetzen. Mit einer solchen Aussage wird Rassismus verleugnet. Die Selbstbezeichnung hat auch etwas mit Selbstbestimmung zu tun. Ich bin als dunkelhäutige Person mit einer white-passing[5] Mom aufgewachsen, die sich mit dem Thema nicht auseinandergesetzt hat. Ich habe extrem viel Rassismus erlebt: von bespuckt werden über Beschimpfung mit dem N-Wort bis hin zu schlimmer Gewalt. Im Ferienlager wurde ich in ein Dixieklo gesteckt, das wurde umgeschmissen: ‚Jemand, der aussieht wie Scheiße, sollte auch so riechen.‘ Du wächst so auf, du hasst dich, du hasst deine Haut. Ich wurde dann irgendwann hell [Anm. der Red.: Julias Haut ist aufgrund der Vitiligo heller geworden], hatte überall helle Flecken und wurde als Kuh beschimpft. Ich war mit zwölf oder dreizehn dann fast komplett hell, bis auf einige dunkle Stellen. Die habe ich so sehr gehasst, dass ich mich blutig gebleicht habe. Säurepeelings, Cremes… alles, was ich finden konnte. Zuerst war ich zu dunkel für die Welt und dann war ich nicht mehr PoC genug, um dazu zu gehören. Eine Zeit lang habe ich mich als Weiße bezeichnet und gesehen. Durch Social Media habe ich dann Leute gefunden, die Ähnliches durchgemacht haben wie ich. Dadurch habe ich angefangen, mich zu öffnen – bis hierher war es ein weiter Weg, der für mich sehr wichtig ist.“
„Fette Menschen werden in unserer Gesellschaft als etwas Negatives gesehen“
Der zweite Aspekt der Selbstbeschreibung ist das Wort „fett“ – in unserer Gesellschaft ganz klar negativ besetzt. Esin erklärt mir, warum auch hier das Zurückgewinnen von Selbstbestimmung durch Selbstbezeichnung so wichtig ist. „Ich bin schon immer dick, ich kenne das gar nicht anders. Mir wurde immer gesagt, ich müsse abnehmen. Deshalb bin ich mit enormem Selbsthass groß geworden. Was bei mir ein Umdenken herbeigeführt hat, war Instagram, mit Accounts zu Body Positivity. Ich habe irgendwann angefangen, mich selbst zu akzeptieren, mich selbst ‚fett‘ zu nennen. Dadurch war es keine Beleidigung mehr. Als wir uns kennengelernt haben, habe ich gespürt, wie Julia damit gekämpft hat und es hat mir so weh getan.“
Julia nickt. „Esin war die erste fette Person, die sich nicht pausenlos selbst gehasst hat. Sie war die Einzige, die gesagt hat ‚Boah, der BH sieht geil an mir aus‘ und sowas.“ Sie lacht. „Das war das erste Mal, dass ich gedacht habe, vielleicht ist mein Körper nicht so abstoßend wie immer alle sagen. Esin war meine Power-Pille. Der Grund, warum man das Wort ‚fett‘ als etwas Negatives ansieht, ist in erster Linie, dass man fette Menschen als etwas Negatives ansieht. Es wäre keine Beleidigung, wenn fette Menschen gesellschaftlich nicht inakzeptabel wären.“
Mich beschäftigt außerdem die Frage, warum manche hochgewichtige Menschen in unserer Gesellschaft mehr akzeptiert werden. Julia erklärt es so: „Flache Bäuche, schlanke Gesichter ohne Doppelkinn, kein Rückenspeck – aber dicker Po und große Brüste. ‚Acceptable fat'[6] sind die Menschen, die als übergewichtig durchgehen, aber nicht als ‚fett‘ bezeichnet werden. Menschen, die in Läden in der Innenstadt gehen können und dort Kleidung finden. Ich persönlich kann nur online bestellen. Wer ‚acceptable fat‘ ist, kann sich in die Body Positivity-Bewegung einorden, wird aber nicht angeschrieben mit ‚Ey du fette Schlampe, nimm mal ab.‘ Es gibt also eine scheinbare Grenze, die die Gesellschaft zieht.“
Die Vereinnahmung der Body Positivity-Bewegung und anderer Schutzräume
Für Esin und Julia ist die Body Positivity-Bewegung sehr wichtig. Doch auch hier muss man sich mit mangelnder Intersektionalität auseinandersetzen. Esin erzählt: „Ich leide an einer Essstörung, weil mir jahrelang dieser Druck gemacht wurde, abnehmen zu müssen. Ich bin sehr dankbar für die Bewegung, weil sie mir geholfen hat, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Aber ich muss sagen, dass sich das geändert hat. Menschen, die ‚acceptable fat‘ sind, haben die Bewegung vereinnahmt. Das sind meistens weiße Menschen, die mit Body Positivity werben, aber dabei die Menschen außer Acht lassen, für die die Bewegung gegründet wurde. Menschen, die mehrfach marginalisiert sind, die beispielsweise BIPoC und fett sind, werden innerhalb der Bewegung nicht mehr repräsentiert.“
Julia spezifiziert: „Jeder kann Self Love betreiben. Aber die Body Positivity-Bewegung ist für Körper, die in den Mainstream-Medien nicht repräsentiert werden. Und wenn, dann in einem negativ-stereotypen Licht. Zum Beispiel als die fette beste Freundin, die keine eigene Geschichte hat. Dünne, weiße, able-bodied[7] Frauen, die schon 99 Prozent des Kuchens haben, versuchen, das Thema zu vereinnahmen und sind sauer, dass sie das restliche Prozent nicht auch noch bekommen. Sie wollen unbedingt Raum einnehmen. Aber wenn dünne, weiße Frauen so eine große Rolle einnehmen, wird die systematische Diskriminierung, die wir durchmachen, nicht als Unterdrückung anerkannt, sondern als Mobbing gesehen.“
Schutzräume für marginalisierte Menschen sind wichtig
Das Problem der Vereinnahmung von Schutzräumen und/oder Empowerment-Bewegungen veranschaulicht Julia weiter am Beispiel Rassismus: „Die Body Positivity-Bewegung gibt es genauso wie Black Lives Matter aus einem bestimmten Grund: Weil marginalisierte Menschen immer noch in dieser Unterdrückung leben. Und die Vereinnahmung sieht man genauso an der Gegenbewegung All Lives Matter. Menschen, die das Privileg haben, in einem oder mehreren Bereichen nicht marginalisiert zu sein, können es nicht akzeptieren, bei anderen Themen mal nicht im Mittelpunkt der Diskussion zu stehen. ‚Ich wurde schon mal als Weißbrot beschimpft, das ist auch Rassismus‘ – die Menschen versuchen so sehr, ‚diskriminiert‘ zu werden, als wäre es ein Wettbewerb. Aber diese Bewegungen sind für marginalisierte Körper, die in den Mainstream-Medien einfach nicht repräsentiert werden. Es ist ein großes Problem, wenn systematische Diskriminierung und Unterdrückung mit Mobbing gleichgesetzt wird. Denn dann wird das, was wir durchmachen, nicht als Unterdrückung anerkannt – und das ist die Basis dafür, dass Rassismuserfahrungen bagatellisiert werden.“
Gäbe es Instagram und Netzaktivismus nicht, hätte ich die beiden vermutlich nie kennengelernt. Generell würde mein Lernprozess und meine Selbstreflektion bezüglich Rassismus oder internalisiertem Sexismus beispielsweise sehr viel langsamer stattfinden, würde kein so reger Austausch in der Community stattfinden. Ich bin Menschen wie Esin und Julia und ihrem Projekt „Wir muessten mal reden“ sehr dankbar für ihr Engagement und den Mut, immer wieder unbequeme Themen anzusprechen und ihre eigenen Erfahrungen zu teilen.
Empfehlungen von Wir muessten mal reden:
Julia und Esin haben ein paar Accountempfehlungen ausgesprochen:
Afropolitan Berlin
Isiqu
Mirabellapaidamwoyo
Queertrashofcolor
Magicalsoftness
black_is_excellence
derquotenn*ger
mynameiszefanja89
afrosexology_
hulu_queen
Bengalisun
alokvmenon
gemynii
Johodaniels
nalgonapositivitypride
rvbyallegra
ceremnialsofasavage
Anmerkungen:
[1] „Weiß“ ist hier kursiv geschrieben, um auf die Konstruktion von Hautfarben hinzuweisen. Es bezeichnet im politischen Kontext somit nicht per se die Farbe der Haut, sondern macht auf die Privilegien aufmerksam, die Menschen aufgrund ihrer europäischen ethnischen Herkunft genießen.
[2] „Schwarz“ wird hier großgeschrieben, weil es sich um eine Selbstbezeichnung Schwarzer Menschen handelt. Sie soll auch verdeutlichen, dass es sich um ein konstruiertes Zuordnungsmuster handelt, auf dem in vielen (aber nicht allen!) Fällen Rassismuserfahrungen gründen.
[3] BIWoC/BIPoC steht für Black, Indigenous and Women/People of Colour
[4] Bei Vitiligo („Weißfleckenkrankheit“) kommt es stellenweise zu einem Verlust des braunen Hautpigments Melanin. Die Ursachen dieser Pigmentstörung sind nicht genau bekannt.
[5] „White-passing bezeichnet BIPoC, die zwar ethnisch gesehen nicht weiß sind, aber aufgrund ihres Aussehens gesellschaftlich als weiße Person gedeutet werden (könnten). Wenn sie von anderen als weiß gelesen werden, genießen sie an dieser Stelle auch die Privilegien weißer Menschen.“ (aus dem WMMR-Woketoinary)
[6] „Menschen, die zwar mehrgewichtig sind (auch mehr als curvy), aber dennoch gesellschaftlich akzeptabel sind. Das sind meistens die, die im plus-size Business zu sehen sind, zusammen mit curvys.“ (aus dem WMMR-Woketoinary)
[7] Menschen, die keine körperliche Behinderung haben.
Paula Charlotte ist M.Sc. Psychologin in Leipzig. Sie schreibt als Autorin und Redakteurin über intersektionalen Feminismus mit Fokus auf Körperakzeptanz, elektronische Musik und psychische Erkrankungen/mentale Gesundheit.