Als Jugendliche erlebt unsere Autorin einen Übergriff. Erst Jahre später kann sie ihn einordnen. Wieder Jahre später sucht ein Beteiligter das Gespräch. Ein Text über Sprachlosigkeit, Verständnis, eine Entschuldigung – und was das mit #MeToo zu tun hat.
Zwei Hinweise zum Inhalt: Im ersten Teil des Textes wird ein sexualisierter Übergriff geschildert. Alle hier aufgeführten Personennamen sind Pseudonyme [Anm. d. Red.].
Übergriff
Sommer 2007. Ich bin knapp dreizehn Jahre alt und katholisch, sowohl auf dem Papier als auch aus Überzeugung. Deshalb fahre ich auf eine von unserer Gemeinde organisierte Jugendfreizeit. In der Gruppe, in der ich die meisten bereits seit Jahren kenne, bin ich nicht sonderlich beliebt. Mit den Mädchen kann ich einigermaßen gut, Ruth von ihnen ist enger mit mir befreundet. Die Jungen lassen ab und an fiese Bemerkungen in meine Richtung ab, aber das bin ich gewöhnt und versuche es nicht weiter ernst zu nehmen.
Wir teilen uns während der einen Woche gemeinsam mit den Betreuer*innen einen großen Schlafsaal. An einem der ersten Tage gehen die anderen Mädchen baden, ich bleibe bei unseren Schlafsäcken und lese. Am anderen Ende des Raums sitzt ein Großteil der Jungen, die in meinem Alter und bis zu zwei Jahre älter sind. Schließlich werde ich angesprochen. Ich habe gelernt, blöde Bemerkungen am besten zu ignorieren und versuche, mich auf mein Buch zu konzentrieren. Die Bemerkungen werden obszön. Nachdem ich auch darauf nicht reagiere, nähern sie sich. Ich starre auf die Buchseiten.
Irgendwann rufen sie, dass Moritz die Hose unten habe und dass ich „mal gucken“ solle. Ich fixiere einzelne Buchstaben, ohne zu lesen. Da ich partout nicht den Blick heben will, stehen die Jungen – es sind etwa fünf – mich herum und reden auf mich ein, ich solle „doch mal gucken“. Einer von ihnen spritzt mir Wasser ins Gesicht. Ich weiß, welche Assoziationen damit geweckt werden sollen. Trotzdem glotze ich stur nach unten. Mich zu wehren hätte eh keinen Zweck und was sollte ich auch sagen?
Ich weiß nicht, wie lange sie da stehen. Einer von ihnen sieht schließlich durch das Fenster, dass Ruth vom Baden zurückkommt und spricht eine laute Warnung aus. Als Ruth den Raum betritt, haben sich die Jungen wieder in ihre Ecke verkrümelt. Ich sitze nach wie vor über mein Buch gebeugt und fange an zu weinen. Ruth sitzt mir im Schneidersitz gegenüber, hält meine Hände, fragt mehrmals, was los sei. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und gebe keine Antwort. Die Jungen reagieren auf Ruths Frage „Jetzt mal ohne Scheiß, Jungs, was ist hier passiert?“ nicht.
Weitermachen
Der Rest der Jugendfreizeit verläuft ohne größere Zwischenfälle. Tagsüber gehen wir wandern und singen zu Liedern, die aus unseren Handys und MP3-Playern plärren. Ab und an wird jemand von einer Wespe gestochen. An mehreren Abenden spielen wir Flaschendrehen, bis die Betreuer*innen den Schlafsaal betreten, um sich auf ihren Isomatten, die den Mädchen- vom Jungenbereich trennen, niederzulassen. Wir Mädchen versuchen, durch das Schlüsselloch zum Bad einen Blick auf die Jungen zu erhaschen. Manchmal sitzen wir alle in friedlicher Eintracht beisammen, um in den Manga-Love-Storys zu lesen, die Tim mitgebracht hat.
Über den Vorfall zu Beginn der Freizeit spreche ich nicht. Ist ja auch nichts Neues, dass ich mich mit den Jungen nicht gut verstehe. Wenn ich petze, kann ich gleich einpacken. Außerdem weiß ich immer noch nicht, was ich sagen soll, also kann ich es gleich lassen. Nur einmal spricht mich Lukas drauf an. Er war nicht daran beteiligt, aber anwesend und will mir nicht glauben, dass ich nicht geguckt habe, als Moritz seinen Schwanz draußen hatte. Ich versuche, ihn von der Wahrheit zu überzeugen, werde immer wütender und will ihm im Laufe des Gesprächs die Fresse polieren. Er kann sich allerdings zu gut wehren.
Jahre später werde ich Lukas im Rahmen eines feministischen Vortrags wiedersehen und er wird mich nicht grüßen.
Je länger ich nicht darüber spreche, desto mehr verblasst das Erlebte. Ich verbringe die folgenden Jahre weiterhin mit denselben Menschen, singe mit ihnen im Chor, gehe mit ihnen zum Religionsunterricht, zelebriere mit ihnen unsere Firmung, fahre mit ihnen auf weitere Jugendfreizeiten. Ab und an blöde Bemerkungen, aber meine Güte, warum darüber aufregen. Die Freundschaft zu Ruth entwickelt sich weiter und gewinnt an Tiefe. Gemeinsam mit ihr habe ich das Gefühl, das alles abzukönnen.
Verstehen
Mit sechzehn habe ich meinen ersten festen Freund. Außerdem gehe ich einem neuen Hobby nach, das viel Zeit in Anspruch nimmt. Zunehmend entferne ich mich von der Kirche. Der Kontakt zu den Gleichaltrigen aus diesem Kontext reißt ab – nur die Freundschaft mit Ruth, die sich schon etwas früher aus der Gemeinde verabschiedet hat, bleibt weiter bestehen.
Ich bin verliebt. Ich habe Sex. Ich arbeite an Projekten mit. Ich lerne tolle Menschen kennen. Ich verliere alte Freundinnen und gewinne neue Freund*innen. Ich habe diversen Liebeskummer und verliebe mich wieder. Ich mache Abitur. Ich absolviere ein FSJ. Ich beginne mich näher mit Politik auseinanderzusetzen. Ich bewerbe mich auf Studienplätze. Ich liebäugle mit dem Feminismus. Meine kirchliche Vergangenheit wird mir zunehmend egal. Mit 19 erkläre ich meinen Eltern am Telefon, dass ich mich dem Christentum nicht mehr zugehörig fühle.
Im selben Jahr komme ich mit meinem dritten Freund zusammen. Als wir noch sehr frisch verliebt sind, erzähle ich ihm an einem Abend von dem „Zwischenfall“ auf der Jugendfreizeit. Es ist das erste Mal seit sieben Jahren, dass ich darüber spreche. Dann heule ich los. Auf einmal habe ich das Gefühl, etwas verstanden zu haben. Für eine konkrete Bezeichnung fehlen mir zwar immer noch die Worte – aber ich treffe mich mit Ruth und beantworte ihre Frage von damals. Ich besuche meine Eltern und berichte meinem Vater am Abendbrottisch von dem „Zwischenfall“. Wenn es die Situation hergibt, erzähle ich Freund*innen davon, weil es so unendlich befreiend ist, über etwas zu sprechen, was ich jahrelang verdrängt und nicht verstanden habe. Ich überlege kurz, den Kontakt zu den Jungen von damals zu suchen, verwerfe den Gedanken aber sofort.
Hashtag
Ich studiere. Ich engagiere mich politisch, künstlerisch, journalistisch. Ich trenne mich von meinem Freund. Ich schätze zunehmend den Wert enger Freund*innenschaften. Ich schreibe meine Bachelorarbeit. Ich habe Sex mit Idioten und mit Männern, die mich mit ihrer Achtsamkeit umhauen. Ich bewerbe mich auf Masterstudiengänge. Ich trete aus der Kirche aus. Selten begegne ich jemandem, der damals auf der Jugendfreizeit dabei war – am häufigsten noch Jan, weil er an derselben Uni wie ich studiert. Netter Mensa-Smalltalk und tschüss.
Oktober 2017, Facebook am Abend. Das erste, was ich sehe, ist der Beitrag einer Freundin: #MeToo. Dann der Post einer weiteren Freundin: #MeToo. Ich lese, was es mit dem Hashtag auf sich hat. Prompt denke ich an den „Zwischenfall“. Ist das schlimm genug? Kann man damals pubertierenden Typen, die doch auch nur Opfer der Idealisierung eines patriarchalen Männerbildes sind, ernsthaft vorwerfen, sexualisierte Gewalt ausgeübt zu haben? Erinnere ich mich überhaupt noch richtig? Habe ich selbst nicht auch ab und an übergriffig gehandelt (wir erinnern uns ans Illern durchs Schlüsselloch)?
Ich denke an all die Arschgrabscher beim Feiern, die Belästigungen beim Zugfahren und die ekelhaften Kommentare, die mir auf der Straße schon hinterhergerufen wurden und beschließe, dass das allein schon reicht. Ich poste #MeToo, ohne weitere Erklärung. Vier Freund*innen reagieren – Like, Like, Love und Traurig – einer kommentiert mit einem Bild des Pokémons Mewtwo. Bald vergesse ich meinen eigenen Post und verfolge stattdessen gebannt die Kreise, die #MeToo zieht: Artikel rund um Harvey Weinstein, Quentin Tarantino, Catherine Deneuve, Asia Argento. Ich lache über Redebeiträge von Carolin Kebekus, freue mich über Margarete Stokowskis Kolumnen und rege mich über die Frage „Was darf Man(n) denn jetzt eigentlich?“ auf.
Dialog
Ein Jahr später lasse ich in einer neuen Gruppe ein altes Hobby aufleben. Dort treffe ich Jan, der auch neu dazugekommen ist und freue mich sogar ein bisschen. Ach hey, was machst du so, ja, na dann sehen wir uns ja jetzt öfter. So zum Beispiel einige Tage später auf einer WG-Party. Dort sind auch zwei weitere Typen aus der Gemeinde, die damals mit dabei waren. Einer von ihnen ist Moritz. Es ist okay. Mit allen dreien quatsche ich ein wenig und feiere sonst ungestört.
Gegen halb vier packe ich meine Sachen im Flur zusammen. Jan kommt aus der Küche. „Du gehst?“, fragt er. „Ja.“ – „Können wir kurz miteinander reden?“ Was’n jetzt los, denke ich, weiter nichts. Wir gehen in eines der leeren Zimmer.
„Du hast vor einem Jahr auch #MeToo gepostet“, setzt er an – ich schließe die Tür. „Ich wollte nur wissen, ob das was mit mir zu tun hat“, sagt er weiter. Ich stehe kurz auf dem Schlauch. Spielt er darauf an, dass wir mal ineinander verknallt waren und es dann doch nicht funktioniert hat? – „Es gab mal eine Situation im Gemeindekontext“, sage ich schließlich langsam, „von der ich aber nicht sicher weiß, ob du daran beteiligt warst.“ Ich erinnere mich wirklich nicht mehr genau. – „Ich glaube, ich weiß, welche Situation du meinst“, antwortet er. „Die auf der Fahrt, oder?“ Ich starre ihn an. „Ja.“ Er holt Luft. „Ich war dabei. Und es tut mir unendlich leid.“
„Danke“, bringe ich irgendwann heraus. Er entschuldigt sich nochmal, auch dafür, dass er das Thema ausgerechnet auf einer Party angesprochen hat. Ein wenig sieht er aus wie ein kleiner Junge, der beim Klauen erwischt wurde. „Es ist okay“, sage ich. „Also, es ist natürlich nicht okay, was da passiert ist. Aber ich denke nicht, dass ich bleibende Schäden davongetragen habe.“ Wir verabschieden uns mit einer längeren Umarmung. Auf dem Heimweg weiß ich nicht, ob ich vor Erleichterung lachen oder weinen soll. Irgendwie tu ich beides.
#MeToo als Chance
Während ich diesen Text schreibe, frage ich mich, wofür ich das tue. Zum Einen, um das Gespräch zwischen Jan und mir festzuhalten, weil ich es als sehr wertvolle Erfahrung einordne. Jan hat Scheiße gebaut – wie viele von uns es in ihrem Leben getan haben. Zehn Jahre später hat er einen einfachen Hashtag mit sich in Verbindung gebracht. – „Er muss das mit sich rumgetragen haben“, sagt Ruth. Wieder ein Jahr darauf hatte er den Arsch in der Hose, das mir gegenüber anzusprechen und sich zu entschuldigen. Auch wenn das nichts rückgängig macht, werte ich das als starke Handlung und bin ihm dafür sehr dankbar.
Zum Anderen wird mir klar, dass es ohne #MeToo dieses Gespräch wahrscheinlich nie gegeben hätte. Umso mehr ist das eine Bestätigung für mich, dass dieser Hashtag etwas bewegen kann, im Großen wie im Kleinen. Damit meine ich nicht nur, dass Missbrauchsfälle öffentlich gemacht und Täter*innen benannt werden. Das ist die kämpferische, die politische, symbolisch aufgeladene Seite. Darüber hinaus ist #MeToo aber auch eine Chance, fremdes wie eigenes Verhalten zu hinterfragen, bereits Erlebtes und fast Vergessenes neu zu betrachten und vor allem, darüber miteinander zu sprechen. Jenseits von Gut und Böse.
One thought on “Sprecht miteinander! Ein Erfahrungsbericht über #MeToo”