Rezension „Nicht nur Mütter waren schwanger“: Schwangerschaft ist nicht die natürlichste Sache der Welt

Rezension „Nicht nur Mütter waren schwanger“: Schwangerschaft ist nicht die natürlichste Sache der Welt

Inhaltswarnung: Schwangerschaft, Fehlgeburt, Tod, Rassismus

Alisa Tretau wünscht sich ein Kind. Als cis Frau in einer Heterobeziehung (sogar mit Trauschein!) erscheint ihr das zunächst als „das Natürlichste der Welt“ – etwas, das einfach so, fast aus Versehen passiert. Allerdings wird sie jahrelang nicht schwanger, zeigt aber regelmäßig (Schein-)Schwangerschaftssymptome. Nach einiger Zeit fragt sie sich, ob es wirklich so normal und einfach ist, ein Kind in die Welt zu setzen, wie sie immer dachte. Dabei stellt sie fest: Für sehr viele Menschen ist es das nicht. Die Erfahrungen dieser Menschen sind in „Nicht nur Mütter waren schwanger. Unerhörte Perspektiven auf die vermeintlich natürlichste Sache der Welt“ erschienen. In den einzelnen Kapiteln beschreiben cis Frauen und trans Männer, Menschen in gemischt- und gleichgeschlechtlichen Beziehungen, weiße Menschen ebenso wie Schwarze Menschen und people of colour, Menschen mit und ohne Kinderwunsch, mit und ohne Kinder ihre Erfahrungen.

„Nicht nur Mütter waren schwanger“ versammelt Stimmen, die sonst oft ungehört bleiben

Neben Alisas Scheinschwangerschaften berichtet Benjamin Czarniak davon, wie es ist, als trans Mann Fehlgeburten zu haben. Mascha Falkenberg hat festgestellt, dass Kinderwunsch und Berufstätigkeit auch in linken Milieus oft als Widerspruch behandelt werden – Kinder seien „eine Lifestyle-Entscheidung, die man nicht mittragen wolle.“ Sula schreibt darüber „was es bedeutet, Schwarze Kinder in einer Welt aufzuziehen, die nicht für sie gestaltet ist“. Ihr Text handelt von der kolonialen Geschichte voller sexualisierter Gewalt, Zwangssterilisation und dem Zwang, fremde weiße Kinder statt der eigenen Schwarzen aufzuziehen. Katti Jisuk Seo denkt „übers gemeinsame Kinderkriegen (mit einem schwulen Pärchen, besten Freund*innen und Sonntagslover)“ nach und erforscht so alternative Familienmodelle. Daneben geht es auch um viele weitere Themen wie künstliche Befruchtung, Schwangerschaftsabbrüche, Langzeitstillen – „unerhörte Perspektiven“ eben, wie der Untertitel des Buches sagt.

Was mich ergänzend zu dieser großen Vielfalt noch gefreut hätte, war eine transweibliche Perspektive. In vielen Kapiteln klingt an, wie stark unsere gesellschaftliche Vorstellung von „Weiblichkeit“ oft durch mögliche Schwangerschaft und Mutterschaft geprägt wird und wie sich das auf Menschen mit Uterus auswirkt. Spannend wäre daher noch der Blick aus der anderen Richtung – was macht es mit der eigenen Weiblichkeit, wenn die Organe fehlen, die in den Augen der Gesellschaft so stark damit verknüpft sind?*

Wie kann man in einer diskriminierenden Gesellschaft über körperliche Themen sprechen, ohne Diskriminierung zu reproduzieren?

„Nicht nur Mütter waren schwanger“ gliedert sich in drei Teile zu Kinderwunsch, Schwangerschaft und Elternsein. Die Texte darin sind größtenteils deutsch, vereinzelt englisch. Neben vielen Fließtexten haben sich auch Gedichte von Nadire Y. Biskin und Mareice Kaiser dazwischengeschoben. Während die Texte ganz unterschiedliche Längen haben, reichen grundsätzlich wenige Minuten aus, um die einzelnen Kapitel durchzulesen. Illustriert wurde die Sammlung von der Künstlerin Pia Eisenträger.

Herausgeberin Alisa Tretau weist im Vorwort darauf hin, dass Geschlechterbezeichnungen im Buch eine besondere Herausforderung dargestellt hätten, da das Thema ein so körperliches sei. Es sei schwierig gewesen, die persönlichen Erfahrungen mit Geschlecht und Sexualität zu beschreiben, ohne Diskriminierungen zu reproduzieren. Manche Autor*innen sprechen vom „Leben in ihrem Bauch“ – eine Formulierung, die auch militante Abtreibungsgegner*innen verwenden. Dieser Versuch, Worte für ganz persönliche Wahrnehmungen zu finden, sei allerdings keiner ablehnenden Haltung gegenüber Schwangerschaftsabbrüchen zuzuschreiben. Die Autor*innen verstünden sich alle als pro-choice, für die freie Entscheidung der ungewollt schwangeren Person. Mir gefällt an dieser Teilhabe an individuellen Reflexionsprozessen, dass „Nicht nur Mütter waren schwanger“ Leser*innen einlädt, für sich selbst zu reflektieren, welche Bezeichnung sich für sie richtig anfühlt.

Die Einblicke, welche die Autor*innen gewähren, sind extrem persönlich. Daher sind sie teilweise auch nicht mit dem Klarnamen veröffentlicht. Ich bin dankbar, dass auf diese Weise eine Offenheit ermöglicht wird, die gesellschaftliche Vorstellungen von Schwangerschaft wirklich herausfordern. Ich kann mir vorstellen, dass die Schilderungen genau deswegen für Menschen in ähnlichen Situationen Anknüpfungspunkte bieten und helfen können.

 „Nicht nur Mütter waren schwanger“ ist ein Buch für alle, die sich mit ihrer Familienplanung auseinandersetzen

"Nicht nur Mütter waren schwanger" von Alisa Tretau

„Ein Kinderwunsch ist weder weiblich noch männlich, sondern menschlich“, schreibt Benjamin Czarniak an einer Stelle. An einer anderen Stelle zeigt das Buch, dass es ebenso menschlich ist, keinen zu haben. Das macht „Nicht nur Mütter waren schwanger“ grundsätzlich für alle interessant, die sich akut oder allgemein mit ihrer Familienplanung auseinandersetzen. Besonders, wenn sie dabei auf Hindernisse irgendeiner Art stoßen. Es sollte viel mehr solche Bücher geben, die Geschichten außerhalb der vermeintlichen Norm versammeln und nebeneinanderstellen. Damit niemand sich so allein fühlt wie Alisa Tretau zu Beginn ihres Projekts.

* Tipp: „Support your sisters not your cisters“ von FaulenzA. Darin schreibt die Musikerin unter anderem über die alles überstrahlende Mutterrolle, die sie als trans Frau ohne Gebärmutter nicht so einfach erreichen kann. Meine Rezension könnt ihr hier lesen.

Anmerkung: Ich habe das Buch „Nicht nur Mütter waren schwanger“ im Rahmen des Crowdfundings, welches das Buch realisiert hat, selbst bezahlt.

Artikelfoto: Aus der Reihe „pure bodies“ von Paula Charlotte. (Instagram: @chybris)

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