Menschen außerhalb des binären Geschlechtersystems gibt es schon so lange, wie dieses existiert. Intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans*, genderqueere Identitäten – sie sind keine Tumblr-Erfindung, sondern Bestandteil jeder Gesellschaft. Es wird Zeit für mehr Sichtbarkeit und Zeit, dass sie auch juristisch existieren dürfen. Der gesetzliche Geschlechtseintrag muss selbstdefiniert und vielfältige Optionen einschließen! Dafür setzt sich die Aktion Standesamt 2018 ein – mit ihr unser*e Gastautor*in Charlie Robin
Aktuell sieht es in Deutschland so aus: Bei der Geburt wird jedem Kind aufgrund von körperlichen Merkmalen entweder das weibliche oder männliche Geschlecht zugewiesen. Seit einigen Jahren kann bei intergeschlechtlichen Kindern, die sich also körperlich nicht in diese beiden Konstrukte einteilen lassen, der Eintrag frei bleiben. Auch inter* Erwachsene können diesen mittlerweile streichen lassen.
Eine Änderung des Eintrags ist durch das Transsexuellen-Gesetz (TSG) möglich; dafür braucht eine trans Person zwei voneinander unabhängige Gutachten darüber, dass sie sich „dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet“ und „seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben“.
Das Verfahren nach dem TSG ist fremdbestimmt, langwierig und kann aufgrund von Gerichtsgebühren bis zu 2000 € kosten. Das ist diskriminierend und übt massiven psychischen sowie finanziellen Druck auf die Menschen aus, die ihren Personenstand endlich angleichen wollen.
Geschlechter außerhalb der Binarität weiblich/männlich werden nicht berücksichtigt, wenn keine körperliche Intergeschlechtlichkeit vorliegt. Es müssen dringend neue Gesetze geschaffen werden, die allen Personen in Deutschland ermöglichen, würdevoll ihren korrekten Geschlechtseintrag zu bekommen!
Ging für einen Geschlechtseintrag neben den binären Gendern vors Gericht: Die „Dritte Option“
Dieses entschied vor knapp einem Jahr, dass die aktuelle, binäre Regelung zu Geschlechtseinträgen verfassungswidrig ist und die Grundrechte all jener verletzt, die sich nicht im männlichen oder weiblichen Geschlecht verorten können und wollen.
Das Bundesverfassungsgericht verpflichtete den deutschen Gesetzgeber (also Bundestag und -rat), bis Ende 2018 ein Gesetz über eine Neuregelung des gesetzlichen Geschlechtseintrags zu verabschieden: Eine dritte Option oder Streichung des Eintrags soll für alle Menschen möglich sein.
Das Gericht stellte auch klar, dass es in diesem Gesetz um selbstbestimmtes Geschlecht gehen muss – es sollen alle Menschen eingeschlossen werden, die nicht weiblich und männlich sind, egal ob sie entsprechende „körperliche Konstitutionen vorweisen“ können oder nicht.
Aktion Standesamt 2018: Worum geht es?
An diesen Beschluss des Verfassungsgerichts vom letzten Herbst knüpft die Aktion Standesamt 2018 an: Die Kernidee ist, dass wir Anträge auf unseren richtigen Geschlechtseintrag bei unseren Geburtsstandesämtern stellen. Das Gesetz dazu ist noch nicht erlassen – es geht zunächst darum, ein Statement zu setzen und darum zu zeigen, wie viele Leute in Deutschland neben Männern und Frauen existieren. Damit beantragen wir etwas, das es so noch nicht gibt: eine selbstbestimmte dritte Option.
Kernstück wird unsere bundesweiten Aktionswoche (die morgen beginnt) sein: Vom 8. bis 13. Oktober werden wir gemeinsam zu den Standesämtern gehen, um die Anträge abzugeben. An verschiedenen Orten in Deutschland gibt es kleine Demos, Kundgebungen und Flashmobs und am 13. Oktober findet die große Abschlusskundgebung in Berlin statt. Diese wird in die Unteilbar-Demonstration münden, bei der wir den queeren Block begleiten.
Es geht der Aktion Standesamt 2018 um die Sichtbarkeit von nichtbinären, inter* und genderqueeren Menschen – wir sind keine „verwirrten Einzelfälle“, wir sind viele. Wir haben ein Recht auf unser Geschlecht, auf Selbstdefinition und eigenverantwortliche Entscheidungen. Darauf, dass der deutsche Staat und diese Gesellschaft uns anerkennt.
Aus der bundesweiten Aktion Standesamt 2018 haben sich seit dem Frühjahr mehrere Regionalgruppen herausgebildet; so zum Beispiel in Freiburg, Frankfurt a.M., Dresden, Köln und Berlin. In den letzten Monaten gab es über vierzig Vorträge, Workshops, Events und Diskussionen, an denen die Aktion teilgenommen hat bzw. die durch uns ausgerichtet wurden. Wir haben Sticker gedruckt (und verteilt), Merchandise ins Leben gerufen und für unsere Anträge Geburtsurkunden, Meldebescheinigungen und Führungszeugnisse beantragt.
Ein Eckpunkt unserer Forderungen ist, dass nach der Geburt der Geschlechtseintrag zunächst für jede Person frei bleibt, bis diese Person in der Lage ist, die eigene Identität zu formulieren. Dann kann auf freiwilliger Basis ein Geschlecht eingetragen werden – auch außerhalb der binären Geschlechter und wenn gewünscht, mit mehrmaligen Änderungen. Das Verfahren muss hierbei unabhängig von Gutachten und Gerichtsverfahren sein, von körperlichen Merkmalen sowie vom Alter und Staatsangehörigkeit. Ein Weglassen oder die Streichung des Geschlechtseintrags soll jederzeit möglich sein.
Eine sehr gut ausgearbeitete Gesetzesvorlage, die unseren Wünschen ähnelt, wurde Anfang 2017 vom Deutschen Institut für Menschenrechte entworfen. Diese wurde unter anderem von der letzten Bundesregierung mitfinanziert. Das Bundesverfassungsgericht geht also nicht nur auf die Klage einer Einzelperson ein, sondern ist Teil einer Bewegung, die ihren Weg bis in die höchsten politischen Ränge genommen hat.
Erster Gesetzesentwurf des Innenministeriums: Eine Enttäuschung
Während die Aktion Standesamt 2018 Menschen in ganz Deutschland mobilisierte, hat auch das fürs Gesetz zuständige Ministerium nicht geschlafen: Im Juni wurde ein erster Entwurf des Innenministeriums zur dritten Option geleakt. Ich denke, ich spreche für alle Menschen, die sich mit queeren und linken Themen beschäftigen, wenn ich erwähne, dass das zuständige Ministerium für eine solche Debatte gerade denkbar schlecht besetzt ist. Das Innenministerium und „Heimat-Horst“ (CSU) formulierten in ihrem Gesetzesentwurf die Möglichkeit für inter* Personen, ihr Geschlecht mithilfe eines ärztlichen Attests als „Weiteres“ eintragen zu dürfen. Nach einigem Protest wurde die Formulierung in „Divers“ geändert.
Sven Lehmann, der Grünen-Sprecher für LGBT-Politik, der auch Veranstaltungen unserer Aktion besucht hat, nannte den Entwurf „ein Trauerspiel“, „ambitionslos und bevormundend“. Die Dritte Option kritisierte, dass es vom Bundesinnenministerium „blamabel“ sei, „eine so historische Chance so unglaublich zu vergeben“. Und es stimmt: Der Entwurf bleibt weit hinter den Forderungen des Verfassungsgerichts zurück.
Inter* Menschen bekommen die Chance darauf, ihren Geschlechtseintrag zu „Divers“ zu ändern – das ist ein Fortschritt. Aber wieder wird auf den Körper reduziert sowie auf ärztliche Meinungen (auch wenn ein Attest weniger Aufwand bedeutet als ein gesamtes Gutachten). Die Option „Divers“ ist zwar besser als „Weiteres“, aber lange nicht so zufriedenstellend wie die Möglichkeit, das eigene Geschlecht selbst zu formulieren. Menschen, die sich auf dem nicht-binären Spektrum befinden, aber nicht intergeschlechtlich sind, sind überhaupt nicht mitgemeint.
Von Juni bis August gab es noch ein wenig Hoffnung; immerhin gibt es in den Reihen des Bundestags viele einflussreiche Personen, die geschlechtlicher Selbstbestimmung positiv gegenüberstehen. Justizministerin Katarina Barley (SPD) sagte: „Kein Mensch darf wegen seiner sexuellen Identität diskriminiert werden. Es ist überfällig, dass wir das Personenstandsgesetz jetzt endlich modernisieren.“
Wir geben nicht auf: Gesetzesentwurf in Revision
Die Online-Kampagne „Gleiches Recht für jedes Geschlecht! – Stoppt Seehofers Gesetzentwurf zur dritten Option!“ hat bis heute fast 36.000 Unterschriften sammeln können, darunter zum Beispiel die von Claudia Roth oder der ehemaligen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Es ist also bei Weitem nicht so, dass der Kampf für geschlechtliche Vielfalt nur von Interessenverbänden und Privatpersonen geführt wird. Nur leider konnten die fraglichen Politiker*innen im Bundestag nicht durchsetzen: Im August wurde der Gesetzesentwurf vom Kabinett beschlossen.
Vielleicht sind die Abstufungen zwischen verschiedenen Geschlechtsidentitäten, Labels und Lebenswelten auch zu komplex für cis Menschen, die von draußen darauf schauen: Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) sagte über den Beschluss, er sei „ein wichtiger Schritt zur rechtlichen Anerkennung von Menschen, deren Geschlechtsidentität weder männlich noch weiblich ist“. Dabei vergisst sie, dass so viele dieser Menschen von dem Entwurf ausgeschlossen sind.
Trotzdem gibt es noch Hoffnung: Der Gesetzesentwurf muss durch mehrere Lesungen und Instanzen und der Bundestag muss noch darüber abstimmen. Vielleicht hat es auch sein Gutes, dass sich die deutsche Gesetzgebung meistens etwas länger zieht – so liegt nach aktuellen Informationen die sogenannte „erste Lesung des Gesetzesentwurfes im Bundestagsplenum“ direkt in der Aktionswoche der Aktion Standesamt 2018. Es geht also noch einmal darum, gegen den Entwurf zu demonstrieren, um zu zeigen, worin seine Schwächen liegen und wie viele Menschen sich einen selbstbestimmten Geschlechtseintrag für alle und jede*n wünschen.
Wie kann mensch an der Aktion Standesamt 2018 teilnehmen?
Wie kann mensch bei der Aktionswoche mitmachen und die Aktion Standesamt 2018 unterstützen? Um selbst einen Antrag auf den eigenen, richtigen Geschlechtseintrag zu schreiben und ihn in dieser Woche abzugeben, könnte es ein wenig knapp werden. Es gibt verschiedene Ausführungen der Anträge: Wenn sie mit einer Vornamensänderung einher gehen, werden mehrere Anlagen benötigt, die durchaus Zeit zum Beantragen benötigen. Wird nur ein Antrag auf die Änderung des Geschlechtseintrags gestellt, sind keine Unterlagen benötigt – da die dritte Option juristisch noch nicht existiert, gibt es hier keine Vorschriften.
Wenn ihr also doch noch Anträge stellen möchtet: Schnell auf der Website der Aktion nachschauen. Dort gibt es Vorlagen und Musteranträge, die mit eigenen Aussagen aufgefüllt werden können (auch für Personen ohne deutsche Staatsbürger*innenschaft)! Wenn alles fix geht, könnt ihr es vielleicht noch rechtzeitig zu einem gemeinsamen Abgeben der Anträge in eurer Heimatstadt schaffen. Alle Termine dazu gibt es auf den Social-Media-Kanälen der Kampagne sowie der Website.
Natürlich ist es auch möglich, den eigenen Antrag verspätet einzureichen. Damit seid ihr nicht mehr in der Aktionswoche dabei, aber könnt trotzdem mitmachen. Das wäre ein Weg, wenn ihr noch nicht alle Unterlagen zusammen habt. Ansonsten ist es immer möglich, Dokumente an die Standesämter nachzureichen.
Wie kann mensch die Aktion zusätzlich unterstützen?
Wenn eine Antragsstellung für euch aus verschiedenen Gründen nicht in Frage kommt (ihr seid binär verortet, habt keine Zeit oder Energie, möchtet euch auf euer laufendes TSG-Verfahren konzentrieren oder seid nicht geoutet), dann könnt ihr die Kampagne anders unterstützen: Ihr könnt zu den Demonstrationen und Kundgebungen in eurer Nähe gehen und vor Ort emotional oder durch Heißgetränke und Verpflegung supporten – immerhin ist Oktober.
Klebt Sticker der Aktion Standesamt 2018 in euren Straßen. Kauft T-Shirts, Beutel, Taschen und Tassen der Kampagne. Schaut bei LUSH vorbei – hier gibt es einen Charity Pot von uns! Die Erlöse daraus werden für unseren Aktivismus verwendet und um Personen finanziell zu unterstützen, die sich nach einem abgewiesenen Antrag (ähnlich wie Vanja) durch die Instanzen klagen möchten.
Teilt die Veranstaltungen und Forderungen der Aktion auf Facebook, Instagram, Twitter und Co. Macht Fotos, wenn ihr eure Anträge stellt und veröffentlicht sie mit dem Hashtag #meinedritteoption oder #aktionstandesamt2018.
Kommt zur Abschlusskundgebung in Berlin und demonstriert ab 12:00 Uhr gegen das Zwei-Geschlechter-System und für eine freie und offene Gesellschaft. Es geht auf dem Platz zwischen dem Bundeskanzlerinnenamt und dem Paul-Löbe-Haus los und danach gemeinsam mit der Unteilbar-Demo weiter bis zu Siegessäule.
Wenn ihr Kontakte zu Menschen habt, die für die Presse arbeiten oder „irgendwas mit Medien“ machen – informiert sie über die Aktion Standesamt 2018! Es ist wichtig, dass die Berichterstattung nicht nur in einer kleinen linksorientierten, urbanen Szene stattfindet.
Alltäglicher Widerstand: Unterstützung jenseits unserer Aktionswoche
Natürlich zieht die dritte Option Folgefragen mit sich: Wie werden Menschen außerhalb der Binarität juristisch angesprochen? Wie und welche Dokumente müssen geändert werden? Wie kann die Zwei-Geschlechter-Ordnung in allen verwandten Gesetzen, im Polizeirecht, im öffentlichen Raum, in Schulen, an Universitäten, am Arbeitsplatz, in Sportvereinen zurückgedrängt werden? Sichtbarkeit ist wichtig und richtig, aber sie ruft auch Gewalt und Diskriminierung auf den Plan – es bedarf eines umfassenden Diskriminierungsschutzes für nicht-binäre Menschen!
Gender lässt sich nicht durch Körper definieren. Geschlechterrollen sind sozial beeinflusst und Identitäten nicht schwarz und weiß. Dieses Wissen darf nicht nur in queeren, feministischen und linken Räumen „hängen bleiben“. Es muss in die Mitte der Gesellschaft getragen werden.
Sprecht mit euren Großeltern über Geschlechterrollen und ermutigt Kinder in eurem Umkreis, ihre Identität so auszuleben, wie sie es möchten. Hört den trans, inter* und genderqueeren Personen in eurer Umgebung zu, wenn sie über ihre Wünsche und Erfahrungen sprechen (das gilt nicht nur für binäre oder cis Menschen!). Bindet in die Geschichten, die ihr schreibt und Filme, die ihr dreht, trans und nichtbinäre Menschen ein. Fragt nach Pronomen und vermutet keiner Person ihr Gender, ohne nachzufragen. Liebt eure eigenen Geschlechtsidentitäten und Körper!
Auf der Welt leben so viele Menschen mit roten Haaren wie solche, die intergeschlechtlich sind, sich also körperlich nicht in die Konstrukte männlich oder weiblich einordnen lassen. Es gibt immer noch kein Operationsverbot für intergeschlechtliche Kinder; es werden deutschlandweit jedes Jahr tausende medizinisch nicht notwendige Eingriffe an Neugeborenen durchgeführt. Um sie einer Welt anzugleichen, die sich nicht so haben möchte, wie sie sind. Einfach mal bei jeder rothaarigen Person, die ihr trefft, daran denken.
Und wenn mal wieder Argumente auftauchen, dieser „Genderwahn“ sei übertrieben und von Teenagern geprägt, die zu viel Zeit im Netz verbracht haben und jetzt denken, ihr Gender sei ein „Kampfhubschrauber“, dann könnt ihr sie daran erinnern, dass das Wissenschaftlich-Humanitäre Comitee bereits 1901 verkündete: „Es geht nicht länger an, Menschen, die vielfach die Charaktervorzüge des Mannes und Weibes in sich vereinigen, als Schänder menschlicher Würde anzusehen.“
1992 gab es die erste „Aktion Standesamt“ – 250 lesbische und schwule Paare beantragten beim Standesamt ihre Ehe. Hoffen wir, dass es dieses Mal nicht 25 Jahre dauert, bis unser Ziel erreicht ist.
– Charlie Robin
Weitere Informationen findet ihr hier:
https://aktionstandesamt2018.de
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