Das Gefühl der Angst – ein Überlebenswerkzeug für bedrohliche Situationen. Doch was passiert, wenn sie bleibt und sich einnistet? LGBTQ*-Menschen sind doppelt so häufig von sozialen Angststörungen betroffen wie Menschen, die cisgender und hetero sind. Woran liegt das und warum haben wir trotzdem das Gefühl, damit alleine zu sein? Über meinen Versuch, gemeinsam mit anderen ängstlichen queeren Menschen den Dialog zu öffnen.
Schiss, Bammel, der Arsch auf Grundeis, Muffensausen – jeder Mensch hat Ängste. Angst stärkt den Fluchtinstinkt und lässt den Puls steigen, wir können durch sie schneller rennen und größeren Schmerz ertragen. Es ist natürlich und zu weiten Teilen gesund, sich vor manchen Dingen zu fürchten. Doch wenn sich die Panik zu einer permanenten Begleiterin entwickelt und selbst dann in Erscheinung tritt, wenn wir keiner objektiven Gefahr ausgesetzt sind – dann verändert sich unser Denken. Unsere Lebensweise. Ständige Furcht hat einen Einfluss darauf, wie wir uns selbst einschätzen und wie wir von anderen gesehen werden. Sie kappt unser Selbstbewusstsein.
Sozialphobien und Angststörungen sind in den letzten Jahren als Problem mehr und mehr in die Öffentlichkeit getragen worden. Der englische Begriff Anxiety ist mittlerweile auch in manchen deutschsprachigen Kreisen bekannt. Allerdings wird in meinen Augen die Sichtbarkeit des Themas weniger von den Erfahrungsberichten Betroffener geprägt, als von Globuli-Vertreiber*innen und Menschen, die sich über die digitalverseuchte, kommunikationsunfähige Jugend aufregen. Das ist ärgerlich und ungenau.
Ich habe seit mindestens fünf, sechs, sieben Jahren täglich mit sozialen und allgemeinen Ängsten zu kämpfen. In der Schulzeit schaute ich meinen Gleichaltrigen beim Spiel ums Daten, Trinken, Risiko aus der Ferne zu und wartete auf das Verebben meiner Panik. Durch einige Online-Communitys (Tumblr lässt grüßen) war mir schnell bewusst, dass ich mir meine Symptomen mit vielen anderen teilte – dort redeten irgendwie alle und jede*r über das Thema Anxiety. Trotzdem fühlte mich lange schrecklich allein mit meinen Erfahrungen.
So hatte ich nicht nur Angst in der S-Bahn, vor Prüfungen und bei Vorträgen. Da war auch grässliche Nervosität, wenn die Sprache auf „diesen Genderwahn1“ kam und jedes Mal, wenn lesbische Paare über den Schirm des Wohnzimmer-Fernsehers schwirrten. Der Schulsport war mir eine Last, meine Stimme zu hoch, die Kleidung nicht maskulin und nicht feminin genug. Bei jedem Bericht über trans- und homofeindliche Gewalt wurde mir speiübel – bloß nichts Falsches sagen und damit auffallen. Als ich das alles zu definieren begann, mir meine Labels suchte, kamen weitere mühselige Gedankenströme hinzu. Bin ich queer genug? Bin ich trans genug?
Ich begann, mich vor dem Hier und Jetzt zu fürchten, ich bekam Angst vor der Zukunft, Angst vor dem Coming Out und davor, es nie zu durchleben. Angst davor, nie sein zu dürfen, was ich war, vor verschwendeter Lebenszeit und Angst vor Enterbung. Angst, dass der Typ, auf den ich stand, herausfinden könnte, dass ich kein hetero Mädchen war. Angst, mich außerhalb des vorgefertigten Cishet-Wegs zu begeben und auch davor, dass ich diesen vielleicht unbefugt in Anspruch nähme.
Die Jahre vergingen, manches wurde einfacher, manches schwerer, ich wurde langsam erwachsen und machte Abitur. Nun habe ich fast zwei Jahrzehnte hinter mir, zwei Drittel meiner Ausbildung und ein paar kleinere und größere Coming Outs. Ich bin äußerlich produktiver und glücklicher als früher und die Rädchen drehen sich. Doch wie ich es auch wende, umspiele und verarbeite – die Angst ist noch da. Sie schränkt mein Arbeitsleben ein, meine Freizeit, meine zwischenmenschlichen Beziehungen und meine Energie, mich auf #neuland zu begeben.
Die Frustration darüber, dass ich trotz aller Bemühungen noch in einer WG mit der Anxiety wohne, entlud sich in diesem Februar. Sie traf auf meinen Antrieb, das Leben mit (Sozial-)Phobien zu destigmatisieren und meine Lust, „mal wieder was zu layouten“. Angeregt von verschiedenen anderen Projekten formte sich mein Gedanke, Verbündete zu suchen und gemeinsam ein künstlerisches Ventil über queere Angst zu gestalten. Ein kleines Magazin ohne Anspruch, dem Mainstream zu entsprechen oder das große Geld zu machen. Ein bisschen Subkultur, ein bisschen home-made. Ein Zine also.
Da draußen im Internet und auch innerhalb meines Freund*innenkreises kannte ich viele Menschen, die sich mit Kunst, Schreiben, Fotografie wunderbar ausdrücken konnten. Und einige mehr, die nicht den Mut besaßen, es zu versuchen oder zu veröffentlichen.
Ich sammelte meine Ideen und entwarf eine Ausschreibung: Niedrigschwellig war mein Stichwort. Kein blödes Sortieren danach, wer die meisten Wörter kannte und am tollsten malen konnte. Kein Blick auf Followerzahlen und Verwerfen von Einsendungen, die mir nicht in die Ästhetik passten. Da ich vor allem im englischsprachigen Internet unterwegs bin, fiel die Wahl schnell auf Englisch als Moderationssprache. Ich wollte auch international Menschen erreichen und weltweite Perspektiven einbinden.
Ich wollte Intersektionalität, jede Facette des Themas und alle Medien, die sich in einem kostenlosen, digitalen PDF-Dokument einbinden ließen. Bei Instagram, Tumblr und Facebook erzählte ich von meinem Vorhaben und bekam in den nächsten Wochen einige Beiträge zugeschickt. Die große Mehrheit der Einsendungen folgte allerdings auf meine eigenen Initiative hin – mit Anschreiben, antaggen, höflich nachfragen, auf Antwort warten. Sogar Kaitlyn Alexander, einer der bekanntesten nichtbinären Menschen auf Youtube, informierte ich bei einem Meetup persönlich.
Was mir schnell auffiel: Wie viele von den Menschen, die sich in den LGBTQIA*- und Anxiety-Tags befanden, sofort bereit waren, etwas für das Zine zu entwerfen. Ich hatte zu dem Zeitpunkt etwa 200 Follower; fühlte mich also weder berühmt noch engmaschig in der Community vernetzt. Trotzdem fanden sich innerhalb von zwei Monaten 40 Mitstreiter*innen, die mir sehr persönliche, nachdenkliche, wütende und humorvolle Einblicke geben wollten.
Bei der Arbeit am Zine – dem Werben dafür, Durchschauen des Contents, Gesprächen mit den Künstler*innen, dem Layouten und nicht zuletzt Erarbeiten meiner eigenen Stücke – wurde mir mit Wucht die Bandbreite des Themas bewusst. Schon Furcht an sich ist unglaublich komplex, da jeder Mensch zu ihr andere Bezüge hat. Die Lebenserfahrungen von Sozialphobiker*innen sind nochmal intensiver. Die Überschneidung mit queeren Identitäten – ich könnte Bücher darüber schreiben! Naja, oder etliche Zines.
Ein Pfeiler der Thematik besteht aus dem Finden, Ausprobieren, Betiteln, Ausdrücken der eigenen Identität. Darüber gibt es so viele Geschichten wie LGBTQIA*-Menschen. Wie und wann lernen wir über das Geschlecht, welches wir haben und die Geschlechter, die wir lieben (oder auch nicht)? Wie viel Angst steckt in der Suche nach Gleichgesinnten und unserem ganz eigenem Weg? Was macht Dysphorie mit uns, jahrelanges Grübeln über Labels, erschwerte Partner*innensuche und Familiengründung?
Die Panikerfahrungen eines schwulen cis Mannes können meilenweit von denen einer nichtbinären, asexuellen Person entfernt sein – oder auch nicht! Wie gehen wir damit um, wenn in Schutzräumen Diskriminierung und Übergriffe auftreten und wie finden wir trotz der ganzen Unsicherheit zu queerem Selbstbewusstsein?
Das könnte dann eigentlich schon ausreichen. Doch es gibt ja auch noch die Cishets. Dumme Sprüche, Mobbing, Diskriminierung, weil wir so sind, wie wir sind und lieben, wen wir lieben. Körperliche und sexualisierte Gewalt, Todesstrafen, Flucht, Ausschließung von Familie, Kirche und Staat, Hürdenlauf der Gutachten2, Jobverlust, Coming Out, Misgendering3, Queerbaiting4, Deadnaming5 – ich könnte hier so vieles aufzählen, das schon allein bei Erwähnung ein kleines Erdbeben hervorruft (was wäre, wenn mir das eines Tages…?). Einen Tornado, wenn es dann wirklich passiert.
Dieses Frühjahr kuratierte ich also ein kleines Bollwerk gegen den Sturm. 100 Seiten. 60 Kunstwerke. Ein Potpourri aus Zeichnungen, Fotos, Essays, Comics, Gedichten, Installationen, Briefen. So viele Stimmen – so viele Blickwinkel, an die ich nie gedacht hatte. Das Layouten, Rendering und Hochladen quetschte ich neben eine 40-Stunden-Arbeitswoche. Und wie es sich gelohnt hat!
Die Internetseite, die ich extra erstellt habe, hat schon über 2000 Aufrufe. Ich bekam Nachrichten von Menschen aus Ländern, die ich noch nie besucht habe und vielleicht nie sehen werde. Die Visitenkarten, die ich für das Zine gedruckt habe, verteilte ich auf Prides und in queeren Räumen. Ich habe durch dieses Mammutprojekt eine Menge wundervoller, inspirierender Menschen kennengelernt.
In der Vergangenheit griff ich oft zu Verdrängung, um meinen Alltag irgendwie leben zu können. Doch es hilft auch, nach Ventilen zu suchen, die die ganze verzogene, verbogene, verbiegende Materie der Panik nach außen schießen. Kunst, Schreiben, der Austausch mit Menschen, denen es ähnlich geht, kann helfen, die Angst zu sortieren. Sich zusammen mit Wildfremden in etwas so Tiefgehendem wiederzufinden – es ist wie eine erleichternde Umarmung.
Ich als Sozialphobiker*in wünsche mir mehr authentische Berichterstattung über die Leben, die mit, wegen und trotz der ständigen Furcht geführt werden. Darüber, wie wir uns mit der Panik einrichten. Wie wir neben all dem anderen Ballast noch ständig damit leben müssen, dass Angst als Emotion dauerhaft stigmatisiert wird und im gesellschaftlichen Bild mit Entmündigung, Kindlichkeit und Unproduktivität einhergeht.
Ich als queere Person wünsche mir, dass ich meine eigenen Erlebnisse mit der lauernden Angst in der Medienlandschaft wiederfinden kann. So möchte ich nicht nur Artikel über die Panik vor dem U-Bahn-Fahren lesen dürfen: Ich will Kolumnen über die Angst, mein Label nicht ausfüllen zu können und meinen Mitmenschen mit meinem neuen Namen zur Last zu fallen. Ich will Lieder über die Übelkeit beim Misgendert-Werden (Titel: Es gibt nur Mann und Frau oder Die Cishet-Spießbürger*innen).
Ich wünsche mir mehr Diversität in den Erzählungen über die Lebensrealität meiner LGBTQ*-Mitmenschen. Unsere Ängste sind mannigfaltig, vielseitig – und nicht selten fundamental anders als die von cis-hetero Personen. Es ist wichtig, über all die Gründe hinter queer-spezifische Furcht zu sprechen.
Und wenn dann noch ein bisschen Mut übrig bleibt: Den Dialog mit all jenen öffnen, die sich nicht in der Schnittstelle zwischen LGBTQIA* und würgender Angst befinden. Heute schon einen kleinen Schritt mehr wagen …
… vielleicht zum Zine? Schaut mal hier vorbei.
Wenn ihr mehr zu meinen Zine-Projekten erfahren möchtet, schaut doch auch mal in meinen Instagram-Account: LUMOS Zines
Bild: Zane Walker (Instagram)
1 „Genderwahn“: Dass in den letzten Jahren immer öfter auf geschlechtsneutrale Sprache geachtet wird und Sexismuserfahrungen sowie Gendervielfalt mehr Sichtbarkeit bekommen haben, überfordert einige Menschen. Schnell werfen sie das alles in einen Topf und betiteln diesen grob mit Gender. Gerne wird darauf eingegangen, dass diese Bewegungen übertrieben oder überflüssig wären und von „Genderwahn“ gesprochen.
2 Hürdenlauf der Gutachten: Gutachten spielen aktuell vor allem im Leben von trans Menschen eine große Rolle. Für die Änderung vom Vornamen und Personenstand („männlich/weiblich“ im Ausweis und Geburtenregister) werden verschiedene, voneinander unabhängige Gutachten gebraucht. Ähnlich sieht es bei der Beantragung auf medizinische Maßnahmen für körperliche Veränderungen aus. Meist sind diese Gutachten und Prozesse mit langen Wartezeiten, bürokratischem Aufwand, hohen Kosten und Gerichtsverfahren verbunden. Daran muss sich etwas ändern.
3 Misgendering: Misgendering tritt immer dann auf, wenn eine Person als ein Geschlecht gelesen oder angesprochen wird, mit dem sie sich nicht identifiziert. Das kann cisgender und transgender Menschen betreffen: Manchmal sind es kleine Floskeln wie „junger Mann“ oder „die Damen“, die fälschlicherweise und „aus Versehen“ verwendet werden. Falsche Pronomen für eine Person zu benutzen oder sie Gruppen zuzuordnen, zu denen sie nicht gehören („du als Mann/Frau“) ist auch Teil davon. Gerade für trans Menschen ist Misgendering sehr verletzend. Deswegen; nie annehmen, dass eine Person ein bestimmtes Geschlecht/Pronomen hat, sondern nachfragen oder geschlechtsneutral formulieren.
4 Queerbaiting: Von Queerbaiting spricht man dann, wenn Repräsentation knapp daran „vorbeischrammt“, wirkliche Repräsentation zu sein. Zum Beispiel werden in manchen Fernsehserien Witze oder Andeutungen darüber gemacht, dass eine Figur queer ist, damit das LGBTQIA* Publikum interessiert bleibt und weiter schaut. Um die cishetero Zuschauer*innen nicht zu verschrecken, wird allerdings nie aufgelöst, ob diese Figur wirklich queer ist oder zumindest nie weiter darauf eingegangen.
5 Deadnaming: Der Begriff Deadname (sogenannter „toter Name“) kann für den Vornamen benutzt werden, der einer trans Personen bei der Geburt gegeben wurde. Viele trans Menschen möchten diese Namen gerne hinter sich lassen und wählen neue Vornamen. Oft müssen sie mit Fragen darüber rechnen, was denn „ihr echter Name“ ist oder erleben, dass ihr toter/alter Name weiterhin für sie verwendet wird. Wenn das passiert, spricht man von Deadnaming. In Zeitungsartikeln oder Fernsehberichten werden Deadnames häufig verwendet, wenn über die Lebensgeschichte von transgender Menschen gesprochen wird, was extrem respektlos ist.