So fühlt es sich also an, ein durchschnittlicher junger Mann zu sein, der gerade zum ersten Mal Fight Club gesehen hat. Ich sitze in der U-Bahn nach Hause und warte nur darauf, dass jemand Streit vom Zaun bricht, denn jetzt, heute Abend, ist der Zeitpunkt, an dem ich zurückschlagen werde. Der Film des Abends war Tiger Girl, der zwei jungen Frauen auf ihren Touren durch die Berliner Nacht folgt: Tiger und Vanilla sind auf Krawall gebürstet, in geklauten Uniformen, die Autorität versprechen, vielleicht nicht mutig, aber furchtlos. Wer sie blöd anmacht, kriegt auf die Fresse.
Die Art und Weise wie Tiger (Ella Rumpf) sich ins Leben der braven Maggie (Maria Dragus) drängt, erinnert unweigerlich an Tyler Durdens geisterhaftes Aufflimmern im Unterbewusstsein von Fight Clubs angepasstem Erzähler – so sehr sogar, dass sich die naheliegende Frage stellt, ob sich Maggie vielleicht aus lauter Frust über die Ablehnung der Polizeischule ein imaginäres Alter Ego erschaffen hat, das sich nicht mit Höflichkeiten selbst sabotiert. Aber Tiger ist echt und weist Maggie schon bald in die Regeln ihres neuen Selbstbewusstseins ein: Passivität ist Schwäche. Was du willst, nimmst du dir. Wer darunter leidet, ist selber Schuld.
Fight Club mit Frauen
Zur Erinnerung: Der Roman Fight Club von Chuck Palahniuk übt mit seinem in die Annalen der Popkultur eingegangenen Zehn-Punkte-Regelwerk („Rule number one: You don’t talk about Fight Club!“) unterschwellig Kritik am Optimierungswahn der Babyboomer-Generation und an der Tatsache, dass sich die scheinbar liberal erzogenen männlichen Mittzwanziger der Neunzigerjahre mit Begeisterung gegenseitig die Köpfe einschlagen, wenn sie dafür nur einen neuen Regelkatalog bekommen, über den sie ihrem mittelmäßigen Leben eine Bedeutung beimessen können. Kurz: Fight Club ist ursprünglich eine bitterböse Satire auf eingefahrene Männlichkeitsideale. Ich schreibe „ursprünglich“, weil man das leicht vergisst, wenn Brad Pitt als radikal gewalttätiger Tyler Durden im Film vor allem sexy ist und damit nebenbei junge Männer dazu inspirierte, eine ganze Reihe realer Fight Clubs ins Leben zu rufen.
Tiger ist mindestens so attraktiv wie Tyler Durden, hat aber im Gegensatz zu ihm keine hintersinnig gesellschaftskritische Buchvorlage im Rücken. Tiger Girl basiert genaugenommen noch nicht einmal auf einem Drehbuch. Wie schon in seinem Vorgängerwerk Love Steaks, in dem Lass einen schüchternen Masseur und eine furchtlose Küchenhilfe ein reales Kurhotel an der Ostseeküste aufmischen ließ, setzt der Regisseur auf Improvisation: die Handlung ist durch ein sogenanntes „Skelettbuch“ vorbestimmt, aber was in einzelnen Szenen passiert, klärt sich erst am Drehort und liegt (bis auf bestimmte Handlungsanweisungen der Regie) in großen Teilen bei den Schauspieler*innen. In Love Steaks ließen sich Schauspieler*innen und Team davon noch zu irre komischen narrativen Ausreißern verleiten – eine der großen Qualitäten des Films übrigens, der zur Zeit auf Netflix zu sehen ist. Dagegen ist wirkt Tiger Girl fast zahm: Der Schnitt sorgt dafür, dass die Szenen auch ohne vorgeschriebenen Dialog messerscharf zustechen. Das geschieht zuweilen auf Kosten der Spontaneität, und auch die anarchische Energie von Love Steaks geht in der Qualität der Tiger Girl-Dialoge zum Teil verloren, was aber gewonnen wird ist eine Präzision, die über die einer krawalligen Versteckte-Kamera-Inszenierung hinausgeht. Die Charaktere sitzen wie gut platzierte Faustschläge. Unmittelbarkeit ist Trumpf. Tiger Girl findet mit faszinierender Konsequenz ausschließlich in der Gegenwart statt. Für Träume und Trauma ist da kein Platz, und noch weniger für Backstory.
Weil nichts mit Worten erklärt wird, ist zunächst auch nicht klar, was Maggie, jetzt von Tiger „Vanilla“ getauft, mit ihrer neuen Auf- und Ausbruchsstimmung eigentlich anfangen will. Sie beginnt eine Ausbildung in einem Sicherheitsdienst, wo die echten Helden*innen arbeiten. Der Polizei tut Tiger Girl mit der Figur des Theo (Enno Trebs) keinen Gefallen, dem Sicherheitsdienst mit Orce Feldschau, dem Sicherheitsbeamten, der sich in Tiger Girl selbst spielt, umso mehr. Wo Feldschau mit harter Hand regiert, stellt er absolute Kompetenz unter Beweis. Theo hingegen spielt und verliert das Statusspiel trotz Uniform und bleibt als unangenehmer Zeitgenosse in Erinnerung. Den Freund und Helfer findet Frau da jedenfalls nicht.
Und Vanilla? Die rebelliert aus einem zerstörerischen Gefühl der Überlegenheit heraus gegen beide, und zuletzt auch gegen Tiger. Tiger, die mit Bomberjacke und Camouflage-Leggins auftritt wie eine, die sich eben durchschlagen musste, die aber nach einem komplexen Moralkodex austeilt. Und dagegen Vanilla, deren ganze Gutbürgerlichkeit in ihren Perlenohrringen und dem blassen Ringelshirt steckt, bei der genau dieser Moralkodex vollkommen durchbrennt.
Tiger Girl ist keine Milieustudie – dafür verkörpert besonders Tiger zu sehr die Boheme-Fantasie einer Gruppe Millennial-Filmemacher. Dass Tiger mit zwei Junkies auf einem Dachboden lebt und zwischendurch die Existenzangst an die Tür klopft, hat nichts mit Lebensrealität zu tun, sondern ist nur ein weiterer Thrill in ihrem aufregenden, ungebundenen Leben. Tiger hat nichts zu verlieren, sie bleibt unberührbar, und wenn ihr die Luft zu dünn wird, wechselt sie einfach die Stadt. Wirklich prekär fühlt sich das nicht an – viel eher wie die etwas verquere Idealisierung tatsächlich nicht besonders beneidenswerter Lebensumstände. Aber nach der Wirklichkeit wird in dieser „arm aber sexy“-Version von Berlin nicht gefragt.
Dabei liegt die eigentliche Stärke von Tiger Girl genau darin, dass sich der Film vor allem zu Beginn mit Szenen erdet, die so tief in der Lebensrealität junger Frauen verwurzelt sind, dass sich mir dabei aus eigener Erfahrung der Magen zusammenzieht: wenn Maggie ungeschickt und ohne Erfolg versucht, Theos Avancen mit einem soften „Nein“ abzuwehren, und wenn sie später in der leeren U-Bahn-Station von einer Gruppe Männer umringt wird, während man versucht, über die Grenzen des Bildausschnittes hinauszuschielen, ob da nicht vielleicht doch noch ein*e Passant*in unterwegs ist, die*der ihr zu Hilfe kommen könnte. Das hat schockierenden Wiedererkennungswert. Wenn Tiger dann aus dem Nichts erscheint, ihren Baseballschläger schwingend, und die Rüpel in die Flucht schlägt, dann hat das fast etwas Märchenhaftes. In eine Situation, die für viele Frauen mit lähmender Angst verbunden ist, eine furchtlose Retterin zu schicken, fühlt sich in dem Moment an wie Feminismus in Reinform. Dass der Film Gewalt nicht als eine Lösung, sondern als die Lösung präsentiert, ist in diesem Versuchsaufbau nicht nur konsequent, sondern radikal.
Ich bin mit Vermeidungsstrategien aufgewachsen. Geh nicht durch den Park, wenn es schon dunkel ist. Nimm das Taxi, nicht die Bahn. Trink nicht zu viel. Ignorier‘ sie einfach. Mach dich klein. Trag Hosen. Zeig dich nicht. Provozier‘ nicht. Sei am besten gar nicht erst da. Die Gewalt der Frauen in Tiger Girl setzt an der Stelle an, wo Ausweichen nichts mehr nützt. Wenn du schon vermieden hast, was du kannst, und trotzdem lässt Theo nicht die Finger von dir, und trotzdem entscheidet die Gruppe zugekokster Muskelmänner, sich in der U-Bahn-Station einen Spaß mit dir zu machen. Dann kommt Tiger. Und obwohl Tiger im Kontext des Films sehr wohl aus Fleisch und Blut ist, und obwohl wir ganz schön an ihrer saucoolen Oberfläche kratzen, bleibt eine körperlose, Tyler-Durden-eske Version von Tiger nach Ende des Films bei mir. Die Version nämlich, die mich daran erinnert, dass ich Fäuste habe, und dass es schwachsinnig ist, dass ich mich in einer Situation, in der mir Gewalt angetan wird, aus lauter Höflichkeit nicht lautstark zur Wehr setze.
In Tiger schlummert eine Superheldin vom Kaliber eines Batman, und das lässt sich besonders dann nicht leugnen, wenn ihr Gegenpart Vanilla im Laufe des Films zum Joker mutiert. Vanillas Ausraster sind nichts als das Kontrastmittel, das Tigers moralische Unantastbarkeit leuchten lässt. Und wenn Tiger gerade ihre Coolness zum Vorwurf gemacht wird, die das Risiko schürt, Nachahmer*innen anzustacheln, dann klingt das in einer Welt, in der Tyler Durden zur Pop-Ikone für ein männliches Publikum taugt, sehr nach Doppelmoral. Im Gegensatz zu dessen Anarchiefantasien ist Tigers Weltbild aus tatsächlicher Unterdrückung geboren. Sie lotet die Grenzen ihrer Rolle in der Gesellschaft aus, indem sie sich weigert, sich klein zu machen oder mit ihrer Kraft zu kokettieren. Dass sie sogar damit nicht nur im deutschen Kino eine Ausnahmefigur ist, ist tragisch – macht aber Hoffnung darauf, dass sie es vielleicht nicht bleibt.
Golo Schulz‘ elektrisierender Soundtrack – die Berliner Band Grossstadtgeflüster steuerte außerdem den süchtig machenden Titelsong Wie man Feuer macht bei – und die Ästhetik irgendwo zwischen Pop Art, dem eingangs erwähnten Fight Club und Fack Ju Göhte tun ihr Übriges dazu. Ob es sich dabei schließlich um eine Aufforderung an junge Frauen handelt, die Hierarchien des Patriarchats mit den eigenen Fäusten aufzumischen, bleibt debattierbar. In jedem Fall legt Tiger Girl aber Zeugnis ab über ungezähmte Frauen, auch wenn die in der Form vielleicht nur in einem neon-beleuchteten Parallel-Berlin existieren können. Am Ende lässt Tiger Girl dich mit einem imaginären Baseballschläger zurück und einer Furchtlosigkeit, die Mädchen im Mainstream selten erlaubt ist.
Tiger Girl ist ab dem 06. April 2017 deutschlandweit im Kino zu sehen.
Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung von Constantin Film